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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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mittlerweile eingetrocknet - wie eine Lackschicht überzog es die toten Rümpfe.
    Erstarrte Rinnsale, die groteske Gestalten um die Hügel und Täler des Körpers zeichneten. Tintenflecken, die Gesichter, Kehlen, Leisten besudelten.
    Mich schauderte, vor Kälte nicht minder als vor Entsetzen. Ich fürchtete, daß mein Finger auf dem Abzug wider meinen Willen abdrücken würde, deshalb legte ich ihn in Bereitschaftsposition an den Lauf und zwang mich weiterzugehen, die Augen weit aufgerissen.
    In der Mitte des Raums stand eine Art Fleischerbank, auch sie weiß gekachelt, und darauf häuften sich Köpfe. Winzige, schmerzverzerrte Gesichter, versteinert in ihrem letzten Ausdruck, mit tiefen blauschwarzen Ringen unter den Augen. Sämtliche Köpfe waren mit einem glatten Schnitt am Halsansatz abgetrennt. Ich ging die Fleischbank entlang zum anderen Ende, wo sich Gliedmaßen türmten, ineinander verschlungene dunkelhäutige kleine Arme und magere Beine, von einer dünnen Schicht Reif bedeckt. Mein Herz schlug zum Zerspringen. Dann erkannte ich unter diesem gräßlichen Fleischhaufen auch Geschlechtsorgane. Genitalien von kleinen Mädchen, dunkelrot, aufgelegt wie Fische, und Penisse von Jungen, am Ansatz abgesägt. Ich biß mir auf die Lippen, um nicht zu schreien, und spürte, wie es mir plötzlich heiß über Kinn und Hals rann. Ich hatte meine Narbe wieder aufgerissen.
    Ich lauschte, alle Sinne hellwach, und ging weiter, vorbei an neuerlichem Grauen, an einem Vorratslager unkenntlicher Bestandteile, die in kleinen Sarkophagen verwahrt wurden, an Glasgefäßen, in denen sich unbegreifliche Monstrositäten befanden - verdoppelte Organe, wilde Wucherungen, die aussahen wie siamesische Herzen, Spontanzeugungen zusätzlicher Lebern und Nieren in ein und demselben Leib. Je weiter ich kam, desto tiefer sank die Temperatur.
    Endlich stand ich vor der letzten Tür. Sie war nicht verschlossen. Ich öffnete sie einen Spalt, meine Brust zersprang fast vor Herzklopfen. Hier war der Operationsraum. In der Mitte, umgeben von gläsernen Regalen, stand ein Operationstisch unter einer konvexen Lampe, die ein reinweißes Licht verströmte. Er war leer: heute abend mußte niemand sadistische Greuel ertragen. Ich wagte es, den Kopf in den Raum zu strecken und mich umzusehen.
    Ein Rascheln von Stoff ließ mich herumfahren. Gleichzeitig spürte ich einen Stich im Nacken. Ich sah Dr. Pierre Senicier, der sich über mich beugte, ich sah die Spritze in seiner Hand; sie steckte noch in meinem Körper. Aufbrüllend sprang ich zurück und riß die Nadel heraus, aber zu spät; schon schwanden mir die Sinne. Ich hob die Hand mit der Waffe und zielte, mein Vater wedelte mit den Händen, als wäre er erschrocken, aber er kam unaufhaltsam auf mich zu, und ich hörte seine sanfte Stimme auf mich einreden: »Du wirst doch nicht auf deinen eigenen Vater schießen, nicht wahr, Louis?«
    Immer näher kam er und zwang mich, zurückzuweichen. Ich versuchte, die Glock zu heben, aber aus meinem Arm war alle Kraft gewichen. Ich taumelte gegen den Operationstisch und riß die Augen auf - für den Bruchteil einer Sekunde war ich eingeschlafen. Das weiße Licht blendete mich und machte mich noch benommener. Der teuflische Chirurg vor mir machte den Mund auf und fing wieder an zu sprechen: »Auf diesen Moment habe ich nicht mehr zu hoffen gewagt, mein Sohn. Wir werden jetzt die Sache dort fortsetzen, wo wir vor so langer Zeit aufgehört haben, und Frederic retten, nicht wahr? Deine Mutter konnte ihre Erschütterung nicht für sich behalten, Louis. Du weißt ja, wie die Frauen sind ...«
    In diesem Augenblick hörte ich gedämpft die Tür der Schleuse zuschlagen, eilige Schritte kamen näher. Aus dem Eisdunst tauchte meine Mutter auf und lief mit ausgestreckten Krallen auf uns zu. Ihr Gesicht war blutüberströmt, voller Nadelstiche und Schnitte mit der Klinge. Ich schwankte. In einem letzten Aufbäumen zielte ich auf meinen Vater und drückte ab. Durch die Schreie meiner Mutter, die nur noch wenige Zentimeter entfernt war, drang das Klicken von Metall, und ich begriff, daß die Waffe sich verklemmt hatte. Wie ein Blitz tauchte das Bild von Sarah vor mir auf, die mir den Umgang mit Waffen eintrichterte. Ich zerrte am Verschlußstück und ließ das Projektil herausfallen, dann lud ich erneut, als ich ein entsetztes >Nein!< hörte. Es war weder die Stimme meiner Mutter noch die meines Vaters. Es war meine eigene Stimme, die brüllte, als das Monster seiner Ehefrau mit

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