Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
Hölle befreien. Aber mein Vater hat mir diese Bitte vor einer Woche abgeschlagen. Nach Pierres Tod würde er es erst recht nicht erlauben.«
Charmaine war wie betäubt. Sie sah die Bitterkeit in seinen Augen und wusste, was er dachte. Wenn sein Vater zugestimmt hätte, wäre Pierre noch am Leben.
»Sagen Sie den Mädchen das bitte nicht«, fügte er hinzu, weil er ihr die Gedanken am Gesicht abgelesen hatte. »Sie würden ihn nur hassen. Ich mache meinen Vater nicht für das Geschehene verantwortlich, nur mich selbst. Keiner von uns hätte diese Tragödie erleben müssen, wenn ich mich vor vier Jahren nicht so entsetzlich geirrt hätte.« Stille trat ein. Und dann: »Werden Sie den Kindern für mich Adieu sagen?«
»Aber natürlich. Werden Sie wiederkommen?«
»Das weiß ich noch nicht.« Und auf ihren verzweifelten Blick hin fuhr er fort: »Vielleicht ändert ja mein Vater seine Meinung und gestattet den Mädchen im Frühjahr einen Besuch in Richmond, wenn sich die Wogen ein wenig geglättet haben.«
»Sie werden am Boden zerstört sein und Sie vermissen«, sagte Charmaine. »Und wie wird es Ihnen gehen? Sie sollten jetzt nicht allein sein.«
»In Virginia und New York wartet sehr viel Arbeit auf mich. Ich habe alles vernachlässigt, während ich hier auf Charmantes war.« Er seufzte. »Ich werde mich also in die Arbeit stürzen.«
Sie nickte, obwohl sie ihn am liebsten überredet hätte, doch noch zu bleiben. Aber sie wusste, dass er gefühlvolle Szenen verabscheute. »Ich werde Sie vermissen«, sagte sie stattdessen.
Zum ersten Mal lächelte er und sah ihr in die Augen. »Dann hatte mein Besuch doch wenigstens etwas Gutes.« Er öffnete die Tür. »Ich werde Sie auch vermissen, my charm .«
Auf der Schwelle zögerte sie und sah zu ihm empor.
»Ich danke Ihnen sehr«, murmelte er.
Sie wusste, dass ihm der Abschied nicht leichtfiel, und wollte ihm gern ein wenig Trost mit auf den Weg geben. Sie trat einen Schritt näher und umschlang ihn. Dann lehnte sie ihren Kopf, die Augen geschlossen, an seine Brust und lauschte auf den Schlag seines Herzens. Es war wohltuend, seine Arme um die Schultern und sein Kinn in ihrem Haar zu fühlen. »Auf Wiedersehen, John«, flüsterte sie. Sie zog ihn kurz an sich und spürte, wie ihr die Rührung die Kehle verschloss. »Leben Sie wohl.« Dann löste sie sich von ihm und flüchtete in ihr Zimmer.
Sonntag, 15. Oktober 1837
Am nächsten Morgen begrüßte George Charmaine und die Zwillinge vor der Kapelle. Sie waren zu früh gekommen und lächelten George entgegen. Er wollte ihnen sagen, was Charmaine bereits wusste und den Mädchen auch sofort beim Aufwachen eröffnet hatte. Die Falcon hatte in der Morgendämmerung Segel gesetzt, und John befand sich auf dem Rückweg nach Virginia.
»Er hat mir Briefe für euch gegeben«, sagte George. »Sie liegen auf dem Tisch in der Halle.«
Während die Mädchen losrannten, um die Briefe zu holen, sah Charmaine George an. »Ich mache mir Sorgen um ihn, George. Er wird sehr allein sein.«
»Er will allein sein, Charmaine«, antwortete George leise. Er hätte nie erwartet, solche Besorgnis aus ihrem Mund zu vernehmen. »Er wird das schon schaffen.«
Die Mädchen kamen mit den Briefen zurück. Einer davon war für Charmaine. Sie scheuchte die Kinder durch den kleinen Vorraum und sank auf die hinterste Bank der Kapelle. Dort öffnete sie den Brief.
Charmaine ,
ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit in den letzten Tagen, aber am meisten danke ich Ihnen für die Liebe, die Sie Pierre gegeben haben. Sie sind ein außergewöhnlicher Mensch, und die Mädchen dürfen sich glücklich schätzen, Sie zu haben. Ich weiß, dass Sie ihnen auch in Zukunft alle Liebe geben werden, und ich hoffe, dass das umgekehrt ebenso gilt. Falls Sie jemals irgendetwas brauchen, so zögern Sie nicht, sich an mich zu wenden. George weiß, wo ich zu finden bin.
John
Charmaine faltete den Brief und schob ihn in ihre Tasche. Dann sah sie zu dem Kruzifix über dem Altar empor. Die Worte des Briefs hinterließen eine gewisse Leere: nett, freundlich und unbeteiligt. Und wer wird Sie trösten, John?, rief ihre Seele.
Sie verstand seine Abreise, genauso wie sie begriff, warum er gekommen war. Was ihn nach Charmantes gezogen hatte, war nicht mehr da. Colette und Pierre waren tot, und mit seinem Vater verband ihn nichts. Sie wusste, dass er die beiden Mädchen liebte, aber sie waren Frederics Kinder und nicht seine. Es gab also keinen Grund, länger auf Charmantes
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