Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
Frederics knappe Botschaft, als er gerade die Praxis schloss. Sobald Joseph fort war, fragte er sich, was wohl so eilig war. War der Mann krank? Rasch schob er den Gedanken von sich. Darüber hätte ihn seine Schwester längst informiert. Oder war sie krank? Nein, in diesem Fall hätte die Botschaft anders gelautet. Warum also wurde er so dringend ins Herrenhaus gerufen? Vielleicht war ja die Wahrheit entdeckt worden.
Er mahnte sich zur Ruhe, während er in Weste und Jacke schlüpfte. Jetzt durfte er nicht die Haltung verlieren. Diese Sache hatte vermutlich nichts mit ihm, sondern mit seinem bockigen Neffen zu tun, der sich geweigert hatte, ihn ans Bett des Jungen zu rufen. Nachdem der erste Schreck vorüber und das Kind beigesetzt war, konnten die ungelösten Fragen an die richtige Adresse gerichtet werden. Sicher würde Agatha mit dem Ergebnis zufrieden sein. War es nicht das, was sie die ganze Zeit über angestrebt hatte? Diesmal hatte sich John selbst ein Bein gestellt.
Robert griff nach Hut und Tasche und verließ das Haus. Es war besser, pünktlich zu sein.
Charmaine schlang die Arme um ihren Körper. Sie erschauerte angesichts der ungewohnten Kühle. Das Wetter war noch genauso schlecht wie am Tag zuvor. Die Regenzeit hatte begonnen, und ein kühler Nieselregen hatte die strahlend schönen Tage vor Pierres Beisetzung abgelöst.
Lügen. Seit diesem Tag verfolgte sie das Wort.
»Sie hätten mit Paul und den Mädchen in die Stadt fahren sollen«, bemerkte Rose, woraufhin sich Charmaine von den regennassen Scheiben abwandte. »Aber nicht bei diesem Wetter.«
»Am Nachmittag wird es aufklaren«, prophezeite Rose. Sie sah von ihrer Strickarbeit auf, während sich die Finger aber eifrig weiterbewegten.
Charmaine nickte abwesend. »Zweifellos ist Paul verärgert. Mit der Einladung beim Frühstück hat er sicher nicht nur seine Schwestern gemeint.«
»Ich bin überrascht, dass Yvette mitgefahren ist.«
»Ich nicht«, meinte Charmaine und setzte sich neben Rose. »John hat das Haus schon sehr früh verlassen. Vermutlich hofft sie, ihn in der Stadt zu treffen.«
Rose schüttelte den Kopf. »Sie ist ein ganz besonderes Mädchen und ähnelt ihrer Mutter sehr.«
Charmaine hörte die Rührung in Roses Stimme und musste sich zusammennehmen. »Guter Gott, Nana«, hauchte sie. »Welch eine Geschichte.«
Rose legte ihre Strickarbeit weg. »Möchten Sie darüber sprechen?«
Charmaine zögerte, da sie nicht wusste, wie weit Rose eingeweiht war. Doch der melancholische Blick verriet ihr, dass sie alles wusste. »Oh, Nana, dieser Streit zwischen John und seinem Vater … Es war furchtbar. John hat Sachen gesagt, die ich nie hätte hören dürfen.«
»Lassen Sie nur.« Rose tätschelte ihre Hand. »Diese Wahrheiten sind oft hilfreich, um die Beteiligten besser verstehen zu können.«
»Besser verstehen?« Charmaine sah Rose ungläubig an. »Wie kann ich einen Hass verstehen, der seit neunundzwanzig Jahren besteht … einen Hass, der so viel Unheil gebracht hat?«
»Unheil? Sie sprechen von Menschen, die Sie lieben, Charmaine. Menschen sind fehlbar und machen auch zuweilen schwere Fehler, aber es sind nur Fehler. Mehr nicht.« Sie lächelte. »Ihre Reaktion ist nur natürlich, aber es ist noch längst nicht alles verloren. Die Zeit ist der beste Heiler. Die Zeit und die Gemeinschaft. Die Mädchen brauchen Sie jetzt mehr als je zuvor.«
Charmaine dachte über das Gesagte nach. »Aber was soll werden, wenn man mich entlässt? Mr. Duvoisin wollte nicht, dass ich den Streit mitanhöre. Für ihn bin ich jetzt eine Mitwisserin, die ihn ständig an diese Szene erinnert.«
»Er wird Sie nicht entlassen«, erklärte Rose mit Bestimmtheit.
Charmaine war sich dessen nicht so sicher. Sie dachte an Agatha und ihre Machenschaften. »Warum hat Mrs. Duvoisin mich angelogen? Was wollte sie damit erreichen?«
»Sie wollte erreichen, dass John und sein Vater sich wieder an den Kragen gehen, damit John ein für alle Mal von Charmantes verbannt wird.«
»Und warum? Warum hasst sie ihn so sehr? Er ist doch ihr Neffe.«
»Sie wissen sicher noch, wie man sich als Opfer seiner spitzen Zunge fühlt, nicht wahr? Agatha hat nie klein beigegeben und sein Verhalten jahrelang ertragen. Aber jetzt ist sie Frederics Frau, und das nützt sie aus. Was Mrs. Duvoisin angeht, so hat sich John heute sein eigenes Grab geschaufelt.«
Charmaine war wütend. »Ich hätte ihr kleines Spiel durchschauen sollen.«
»Das ist kein kleines Spiel«, flüsterte
Weitere Kostenlose Bücher