Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
müssen wir das den ganzen Tag lang mitmachen?«
»Wie wäre es denn, wenn ihr euch erst einmal Gedanken macht? Vermutlich ist euer Vater für jede Hilfe dankbar.«
Sofort machten sich die Mädchen an die Planung, und Charmaine fragte sich insgeheim, wie Frederic die Pläne seiner Töchter in die Tat umsetzen wollte: Picknicks, Ausflüge in die Stadt, Bootsfahrten und Spiele auf dem Rasen. Frederic hatte die letzten vier Jahre praktisch bewegungslos in seinen Räumen zugebracht. Ob er wirklich mit der Energie von zwei Neunjährigen mithalten konnte? Charmaine lachte leise. Welche Änderungen würde sie wohl noch erleben?
Als es klopfte, sprang Yvette auf, doch ihr hoffnungsvolles Lächeln erstarb, als Paul ins Zimmer kam. »Hallo, alle zusammen!«
Sie brummte einen Gruß und verzog sich schmollend an ihr Pult.
»Hallo, Paul«, rief Jeannette.
»Ich habe eine Überraschung für euch.«
Yvette sah mit neuem Interesse auf.
»Gestern ist Fracht aus England angekommen. Darunter auch ein Fass mit Leckereien aus dem Zucker, der hier auf Charmantes gewachsen ist. Wollt ihr sie einmal versuchen?« Er zog eine große Papiertüte hinter seinem Rücken hervor und bot den Kindern die Süßigkeiten an.
Jeannette riss ihm mit einem begeisterten »Danke!« die Tüte aus der Hand und machte sich mit Yvette daran, die Beute in Augenschein zu nehmen und sich die schönsten Stücke auszusuchen.
Paul sah Charmaine an. »Es war auch neuer Tee dabei. Fatima bereitet ihn gerade zu. Wollen wir auf der Veranda eine Tasse trinken?«
»Sehr gern«, sagte sie rasch und überließ die Mädchen ihren Plänen.
»Mussten Sie auch am Sonntag arbeiten?«, fragte Charmaine, nachdem sie sich gesetzt hatten.
»Ja, die Sache duldete keinen Aufschub. Aber am frühen Nachmittag war die Ladung fertig registriert.«
»Hat die Falcon diese Ladung mitgebracht?«
»Ja«, sagte er, ohne den Blick von ihr zu wenden.
»Haben Sie John heute Morgen noch gesehen?«, fragte Charmaine leise.
»Wir sind zusammen in die Stadt geritten.«
»Hat er noch irgendetwas gesagt?«
»Nicht allzu viel.« Paul seufzte. »Er wollte unbedingt nach Virginia zurück, Charmaine, und ich kann es ihm nicht verdenken. Während der letzten Tage war es hier unerträglich. Außerdem hat er seine Arbeit in den letzten Monaten sehr vernachlässigt. Damit kann er sich jetzt ablenken«, sagte er voller Mitgefühl. »Ich dachte mir, dass die Mädchen nach dieser Neuigkeit unglücklich sind und eine Aufmunterung brauchen könnten.«
»Die Süßigkeiten helfen sicher. Es war lieb, dass Sie daran gedacht haben.«
Fatima brachte den Tee und goss zwei Tassen ein. »Und wie geht es Ihnen?«, fragte Paul. »Ein wenig besser als am Freitag?«
»Ich tue, was ich kann. Ich versuche, nicht daran zu denken, aber ich verfluche mich noch immer, dass ich Pierre an diesem Morgen allein gelassen habe.« Tränen traten ihr in die Augen.
»Es war nicht Ihre Schuld, Charmaine.« Tröstend ergriff er ihre Hand. »Es war auch nicht Johns Schuld. Wie oft haben Sie Pierre zum Schlafen ins Bett gelegt und sind dann noch nach unten gekommen, wenn er eingeschlafen war? Sie haben das doch nur getan, weil Sie wussten, dass er gut aufgehoben ist. Das Zimmer zu verlassen war das Normalste von der Welt. Alle Eltern tun jeden Tag nichts anderes.«
»Ich weiß ja, dass Sie recht haben.« Sie tupfte ihre Augen trocken. »Und doch denke ich immer, wie glücklich wir alle wären, wenn ich es nicht getan hätte. Ich vermisse ihn so sehr.«
»Das weiß ich.« Er streichelte ihre Hand. »Mir geht es doch genauso.«
Sie schwiegen eine ganze Zeit und nippten an ihrem Tee. Dann kam Charmaine noch einmal auf John zu sprechen. »An diesem Morgen hat mir John die ganze Geschichte erzählt«, begann sie nervös, weil sie nicht wusste, wie Paul reagieren würde.
Er sah sie an, aber verärgert wirkte er nicht. »Und Sie sind noch immer neugierig?«
»Ich wüsste gern, wie Sie darüber denken. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie Colette schon vor John kannten.«
Paul lehnte sich zurück und trank einen Schluck. »Ich habe Colette nicht geliebt, falls Sie das meinen. Ich war ein Freund, und unsere Freundschaft vertiefte sich im Lauf der Jahre. Als ich Colette kennenlernte, fand ich sie sehr anziehend. Und wunderschön. Sie kannte sich in der Pariser Gesellschaft bestens aus und stellte mich ihren Freunden vor. Als John sich in sie verliebte, war ich nicht eifersüchtig – zumindest nach einiger Zeit nicht mehr. Es gab
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