Der Fotograf
eingefallen. Während ihr diese Gedanken durch den Kopf gingen, hatte sie nach ihrem Bauch getastet und gefühlt, wie klebriges, warmes Blut herausquoll.
Sie hatte sich auf den heller werdenden Himmel konzentriert; dabei war ihr Atem flacher geworden, und sie wusste noch, wie die beiden Teenager für einen Moment in ihr Gesichtsfeld traten. Sie hatten sich über sie gebeugt und ihr in die Augen gestarrt. Sie hatte gesehen, wie einer von ihnen die Waffe hob, und sie hatte an ihre Familie und Freunde gedacht. Doch statt abzudrücken, hatte der Junge unter Flüchen die Waffe fallengelassen und war weggerannt. Das rhythmische Trommeln der Turnschuhe auf dem Boden würde sie nie vergessen.
Schließlich war es in der Kakophonie der Sirenen untergegangen, die immer näher kamen und ihr die Chance auf ein Überleben versprachen.
Sie schüttelte die Erinnerungen ab und sah einem Zeitungsjungen zu, der mit geübtem Schwung die Morgenausgabe auf den Rasen der Vorgärten warf. Er entdeckte Detective Barren und winkte ihr, nach dem ersten überraschten Blick, mit einem Lächeln zu. Sie kurbelte die Scheibe herunter und fragte: »Zufällig eine übrig?«
Er hielt mit dem Fahrrad an. »Ja, hab tatsächlich ausnahmsweise eine. Der alte Mr. Macy da vorne ist in Urlaub, und ich hab’s vergessen. Wollen Sie die kaufen?«
Sie fischte einen Dollarschein aus der Handtasche.
»Da«, meinte sie, »der Rest ist Trinkgeld.«
»Danke.«
Er radelte weiter und winkte noch einmal.
Die Hauptschlagzeile lautete
Unruhen im Nahen Osten
. Daneben war ein Bild von Rettungskräften, die Leichen aus einem zerstörten Gebäude bargen – Opfer der Autobombe eines Selbstmordattentäters. Darunter das wichtigste Thema aus der Innenpolitik: ein im Kongress verabschiedetes Steuergesetz. Auf der Titelseite fand sie zwei Verbrechensmeldungen – die Eröffnung des Prozesses gegen einen Bandenchef mit einem Foto, wie der Mann die Stufen im Gerichtssaal hochstieg, und eine lokale Meldung, die sie als Erstes las: Ein Hausbesitzer hatte einen Einbrecher in flagranti ertappt und den unbewaffneten Mann mit einer nicht registrierten und somit illegalen Pistole erschossen. Die Staatsanwaltschaft konnte sich nicht entscheiden, ob sie gegen den Mann Strafanzeige erstatten oder ihm einen Orden verleihen sollte.
Sie wandte sich dem Sportteil zu. Die Kämpfe der Regionalligameisterschaft kamen gerade so richtig in Fahrt, und dasTraining für die Auswahlentscheidungen lief auf Hochtouren. Sie blätterte zum Kleingedruckten auf den Innenseiten weiter, um zu sehen, ob sich die Dolphins von einem ihrer Lieblingsspieler getrennt hatten, was offenbar nicht der Fall war. Dagegen hatten die Patriots einen ihrer alten Linemen entlassen. Er war ein Fels in der Brandung, ein Bursche aus dem mittleren Westen, der gegen die Dolphins stets frustrierend gut seinen Mann gestanden hatte. Über die Jahre hatte sie ihn immer wieder für seine unverdrossene Knochenarbeit im Schatten der Stars bewundert. Sie wusste, dass er auch verletzt und unter Schmerzen spielen würde, und dafür respektierte sie ihn, vielleicht sogar mehr als die Fans. Die Nachricht, die an die Sterblichkeit und die Unbeständigkeit des Lebens mahnte, machte sie plötzlich traurig. Sie drückte dem Mann fest die Daumen, dass man keinen Ersatz für ihn fand.
Irgendwann ändert sich alles. Jeder schreitet zu neuen Ufern, dachte sie.
Sie wendete sich wieder zu Jeffers’ Wohnung um und saß kerzengerade, als sie entdeckte, dass dort Licht brannte. Sie sah eine Gestalt, die sich am Fenster bewegte, und machte sich unwillkürlich auf ihrem Sitz ganz klein, als könnte er sie sehen. Die Gefahr war gering, doch ihr Bedürfnis nach Deckung groß.
Na, komm schon, sagte sie in Gedanken. Komm schon, der Tag hat begonnen.
Vor Aufregung glühten ihre Wangen. Sie kurbelte das Fenster herunter und atmete die feuchte Morgenluft ein, als befürchtete sie, an ihren Gedanken zu ersticken.
Martin Jeffers lief im ersten schwachen Dämmerlicht in seiner Wohnung umher. Er hatte geschlafen, da war er sicher, doch wie lange, konnte er nicht sagen. Er fühlte sich nicht erfrischt,sondern emotional genauso erschöpft wie zu Beginn der Nacht. Er ging ins Bad und ließ die Sachen auf den Boden fallen. Er wollte seinen Kreislauf durch eine Schocktherapie ankurbeln. Er wollte bei klarem Verstand und geistesgegenwärtig sein. Also hielt er das Gesicht unter den kräftigen kalten Wasserstrahl und zitterte, fühlte jedoch zugleich, wie
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