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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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können.
    Das war das Problem. Die Menschen sind immer von Verbrechen fasziniert, warum sollte das bei seinem Bruder anders sein? Verflucht noch mal – schließlich spielte er schon so lange mit der Kamera Räuber und Gendarm, dass sein Interesse wirklich nicht verwunderlich war.
    Martin hielt inne.
    Aber wie groß war sein Interesse?
    Wieder schüttelte er den Kopf. Du willst es nicht wahrhaben, dachte er.
    Lächerlich.
    Du kennst deinen Bruder, sagte er sich.
    Er legte den Kopf in die Hände.
    Er konnte nicht weinen. Er empfand nichts weiter als Konfusion.
    Kennst du ihn wirklich?, fragte er sich.
    Er dachte an die Männer in seiner Therapiegruppe. Plötzlich stellte er sich vor, sein Bruder säße unter ihnen. Und ebenso plötzlich sah er sich selbst in ihrer Runde.
    Er wandte sich vom Fenster ab, als könnte er dadurch den Bildern in seinem Kopf entkommen.
    »Verdammt!«, fluchte er laut. »Gottverdammt!«
    Er dachte an seinen Vater und seine Mutter.
    »Wie hättest du sie lieben können?«
    Er dachte an seine Therapeutin. An einer Wand ihrer Praxis hing ein Gemälde, ein Kandinsky-Druck – geometrische Formen und scharfe Konturen in leuchtenden Farben mit bunten Tupfen vor schneeweißem Grund. Gegenüber hatte ein Gemälde von Andrew Wyeth gehangen, eine Scheune im sanften Abendlicht, in gedämpften Farben von Grau bis Braun. Amerikanischer Realismus. Der Gegensatz der beiden Bilder hatte ihn immer verblüfft, doch er hatte es nie über sich gebracht, die Frau zu fragen, was sie zu der Wahl bewogen hatte und weshalb die Bilder dort hingen. »Also«, hatte sie gefragt, »glauben Sie denn, dass Sie Ihre leiblichen Eltern geliebt haben?«
    »Sie haben im Zirkus gearbeitet! Ein Trinker und eine Hure!«, war er wütend herausgeplatzt. »Zuerst haben sie sich gegenseitig verlassen und dann uns! Ich war erst drei oder vier …ich kannte sie gar nicht. Wie soll man jemanden lieben, den man gar nicht kennt?«
    Natürlich blieb sie ihm eine Antwort schuldig.
    Außerdem kannte er sie selbst.
    Es ist leicht. Man schafft sich aus der entferntesten Erinnerung an eine noch so zarte Berührung eine Phantasievorstellung, die man lieben kann.
    In diesem Moment wurde ihm die logische Entsprechung bewusst.
    Die Phantasie kann auch etwas hervorbringen, das man hasst.
    Er ging zu dem kleinen Schreibtisch in der Ecke des Raums, den man als Wohnzimmer bezeichnen konnte – ein Zimmer, das überfüllt war mit Papieren, einem ziemlichen Durcheinander von unterschiedlichsten Dingen sowie Romanen in Taschenbuch- und gebundenen Ausgaben sowie medizinischen Texten, Berichten und Zeitschriften; außerdem gab es ein paar Stühle und ein Sofa, einen Fernseher und ein Telefon, das war’s. Er betrachtete seine Sachen. Sie waren billig. Die dürftige Ausstattung eines dürftigen Lebens. Sein Blick fiel auf seine Schreibtischauflage und den Briefumschlag, der an einer Ecke darunter hervorlugte. Er hatte eigenhändig
Dougs Wohnungsschlüssel
draufgeschrieben. Er dachte daran, wie ihm sein Bruder die Schlüssel lässig hingeworfen hatte. Eine empfindsame Reise, hatte er gesagt.
    Das ist alles kein Zufall.
    Das gehört alles zu einem Plan. Ob bewusst oder unbewusst. Er nahm die Schlüssel aus dem Umschlag und hielt sie in der Hand. Er schüttelte den Kopf. Noch nicht, sagte er sich. Ich bin noch nicht überzeugt, nicht ganz. Ich werde nicht einfach dort eindringen. Noch nicht.
    Er merkte, dass er sich etwas vormachte.
    Dann ließ er den Umschlag mit den Schlüsseln wieder auf denSchreibtisch fallen und kehrte zu einem der Sessel zurück. Er sah auf die Uhr. Es war weit nach Mitternacht. Geh schlafen, mahnte er sich. Er ließ sich in den Sessel fallen, denn er wusste, dass er nicht schlafen konnte.
    Er dachte an die Polizistin.
    Martin Jeffers versuchte, sich in sie einzufühlen, um zu verstehen, was sie antrieb.
    Ihm kam der Gedanke, dass sie sich von lauteren Motiven leiten ließ, dass sie nur an Gerechtigkeit interessiert war. Selbst wenn daraus ein Feldzug wurde, aus Rache oder Wut, war es immer noch ehrenhaft. Selbst Mord?, überlegte er. Auch wenn er sich vor einer klaren Antwort drückte, wusste er instinktiv: Ich würde niemandem trauen, der die andere Wange hinhält. Die moderne Psychiatrie ist gegenüber solch selbstlosem Altruismus skeptisch. Wieder drängte sich die Ermittlerin in sein Bewusstsein. Er sah ihre steinerne Miene ohne den Anflug eines Lächelns, zu allem entschlossen, das streng zurückgekämmte Haar. Das Beängstigende an

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