Der Fotograf
Wohnstraße allein im Wagen übernachtete. Was nutzte die Streife, wenn der Polizist keinen Blick für das Ungewöhnliche hatte? Andererseits war sie froh, dass sie unentdeckt geblieben war, auch wenn ihre Dienstmarke und ihr selbstbewusstes Auftreten die Sache schnell aufgeklärt hätten.
Sie sah den roten Rücklichtern hinterher; als der Polizist auf die Bremse trat, leuchteten sie einen Moment in einem helleren Rot auf, dann verschwanden sie um die Ecke. Sie streckte sich und sah sich um. Sie bog den Spiegel zu sich herunter und brachte so gut wie möglich ihr Äußeres in Ordnung. Dann bückte sie sich und tastete nach der Thermoskanne sowie dem angebissenen Blätterteigteilchen vom vergangenen Abend. Der Kaffee war lauwarm, aber besser als gar nichts. Sie schlürfte ihn langsam und redete sich ein, er sei heiß.
Langsam zeichneten sich die Bäume von der ersten Morgendämmerung ab. Ein einsamer Vogel zwitscherte laut, dann der nächste. Sowie der Morgen um sich griff, nahmen die Häuser nackt und schnörkellos Konturen an.
Sie fasste sich an den Bauch und tastete nach dem dicken Wulst der Einschussnarbe unter ihrer Bluse. Der vorbeifahrende Streifenwagen, die frühmorgendliche Ruhe brachten Erinnerungen zurück. Sie dachte daran, wie sie vom Schuss getroffen wurde; es war noch dunkel gewesen, doch kurz vor dem Ende der Nachtschicht. Bis heute blieben ihr einige Aspekte des Übergriffs ein Rätsel. Das ganze Ereignis schien sich in einem anderen Zeitfenster abgespielt zu haben; teilweise wirkte alles schwindelerregend beschleunigt, dann wieder auf Zeitlupe verlangsamt und wie in Nebel getaucht.
Sie hatte die beiden Jugendlichen entdeckt.
Sie waren so auffällig gehetzt und zielstrebig die andere Straßenseite heruntergekommen, dass bei jedem halbwegs erfahrenen Polizisten die Alarmglocken schrillen mussten.
»Mit den beiden stimmt was nicht«, hatte sie zu ihrem Partner gesagt. Die Teenager trugen hohe Turnschuhe. »Die haben knöchelhohe Schuhe an«, hatte sie hinzugefügt, »und wenn nicht gerade um fünf Uhr morgens irgendwo ein Basketballspiel läuft, von dem wir nichts wissen …« Ihr Partner hatte sich zu den beiden Jungen umgedreht und nach wenigen Sekunden genickt.
»Riecht mächtig nach ’nem Bruch«, hatte er lachend beigepflichtet. »Komm. Knöpfen wir uns die beiden vor.«
Sie hatte Meldung gemacht: »Zentrale, Einheit vierzehn-nulleins, wir sind Flagler sechsundfünfzig, Ecke Northwest einundzwanzig. Fordern Verstärkung an.«
Sie liebte es, wie ihr Ton Autorität ausstrahlte, sobald sie die besonderen Codes der Polizeistreife durchgab. Es hatte im Funk geknistert, und ihr Partner hatte bereits gewendet, um die beiden Jungen einzuholen. Die Leitstelle hatte ihren Funkspruch bestätigt und gemeldet, die Verstärkung sei unterwegs.
Sie waren nur noch wenige Schritte von den Teenagern entfernt, die sich noch nicht zu ihnen umgedreht hatten, als ihr Partner das Blaurotlicht anmachte. »Damit sie wach werden«, hatte er gesagt.
Und er sollte recht behalten. Sie waren zusammengezuckt und geradezu erstarrt. Sie hatte gesehen, dass sie beide zwischen dreizehn und fünfzehn Jahre alt sein mussten.
»Kinder«, hatte ihr Partner gemurrt. »Verdammt.«
Sie waren ausgestiegen, um auf die Jugendlichen zuzugehen. »Frag mich, was sie geklaut haben«, hatte ihr Kollege spekuliert.
Sie musste oft an diese Worte denken: dein Leben.
Sie hatte die Waffe erst gesehen, als sie auf sie gerichtet war. Sie waren nur wenige Meter von ihnen entfernt. Sie entsann sich, wie sie versuchte, ihre Dienstwaffe zu ziehen, während ihr Partner die Hände vor sich hielt, als könnte er so einen Schuss abwehren. Es hatte aus dem Pistolenlauf geblitzt, und als er nach hinten fiel, stieß er sie mit dem Arm an. Sie erinnerte sich, wie die Waffe ihre Ausrichtung änderte, als schwebte sie schwerelos in der Luft, und nun auf sie zielte. Manchmal bildete sie sich ein, sie hätte auf dem kurzen Weg zwischen der Mündung und ihrem Körper die Kugel gesehen.
Das Nächste, woran sie sich erinnern konnte, war, wie sie am Boden lag, hochsah und merkte, dass es bald Morgen und Dienstschluss sein musste, so dass sie nach Hause fahren konnte, um bei einem gemütlichen Frühstück die Zeitung zu lesen. Sie hatte sich vorgenommen, einkaufen zu gehen; auch wenn es kälter geworden war, hatte sie beschlossen, sich etwas Verführerisches zum Anziehen zu kaufen, selbst wenn sie es niemals tragen würde. Ihr waren die Namen der Kaufhäuser
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