Der Fotograf
dass du etwas findest.«
Sie sah sich flüchtig im Badezimmer, dann im Schlafzimmer um. Sie merkte, dass sie nicht gerade systematisch vorging, wusste aber auch, dass Martin Jeffers irgendwelche Hinweise auf seinen Bruder nicht verstecken würde. Unter dem Bett fand sie zwei Aktenkartons mit persönlichen Unterlagen. Sie zog sie heraus, setzte sich auf den Boden und überflog sie, so schnell sie konnte. Größtenteils handelte es sich dabei um Steuererklärungsformulare, Darlehensanträge, Studiendokumente. Sie sah, dass seine Noten im Medizinstudium mittelmäßig waren, während er am College noch geglänzt hatte. Es schien, als hätte er, kaum dass er seine Zukunft erreicht hatte, in seinen Anstrengungen nachgelassen. Das erklärte vielleicht, wieso er an einer staatlichen Nervenheilanstalt gelandet war, statt eine private Praxis in bester Innenstadtlage zu eröffnen. Doch das warf nur zusätzlich Fragen auf, und sie legte die Dokumente wieder in die Schachtel zurück, um flüchtig ein paar weitere Papiere durchzublättern. Sie stieß auf ein Einschreiben vom bundesstaatlichen Verband der Catholic Charities, das ein halbes Dutzend Jahre zurücklag. Sie machte es auf und las:
… sehen wir uns außerstande, Ihnen mit Informationen über Ihre leibliche Mutter zu dienen. Obwohl es sich um eine Adoption innerhalb der Familie handelte, sind die Formalitäten über uns gelaufen. Leider sind dem Brand in der Pfarrei von St. Stephen’s 1972 zahlreiche alte Dokumente, die noch nicht auf Mikrofilm gespeichert waren, unwiederbringlich zum Opfer gefallen.
Detective Barren starrte auf den Brief und fand ihn interessant und aufschlussreich, auch wenn sie nicht sagen konnte, wieso. Sie legte ihn wieder zurück und ging die übrigen Papiere durch. Darunter war ein Brief in einer unverkennbar weiblichen Handschrift.
»Lieber Marty«, las sie. »Es tut mir leid, aber das mit uns beiden wird nicht funktionieren …«, der Rest war die tränenreiche Selbstanklage von einer Frau namens Joanne. Detective Barren erkannte die Masche: Nimm die Schuld auf dich, obwohl du weißt, dass das Gegenteil der Fall ist. Als Teenager hatte sie einem Dutzend Freundinnen dabei geholfen, diese Art von Brief zu schreiben. Ihr krampfte sich das Herz zusammen, als sie daran denken musste, wie ihre Nichte sie im Alter von sechzehn Jahren einmal mit derselben Bitte angerufen hatte.
Sie ließ den Brief wieder in die Kiste fallen und zog eine vergilbte, spröde Zeitung hervor. Es war die
Vineyard Gazette
aus Martha’s Vineyard, eine Ausgabe vom August vor fast zwanzig Jahren. Sie überflog die Titelseite. Die Hauptschlagzeile lautete: SCHIFFFAHRTSAMT SETZT NEUEN FÄHRANLEGEPLATZ DURCH. Es folgte ein Artikel mit Bild: REKORDFANG VON EINUNDZWANZIG SCHWERTFISCHEN. Daneben stand in kleinerer Schrift:
Feriengast beim Schwimmen ertrunken
.
Sie starrte auf den Artikel: »Feriengast Robert Allen ertrank am frühen Dienstagabend, als er vor South Beach vom Sog einer Unterströmung erfasst wurde. Polizei und Küstenwache gehen davon aus, dass der Geschäftsmann aus New Jersey gegen die Flut ankämpfte und zu erschöpft war, um wieder an den Strand zu schwimmen, nachdem ihn die Strömung eine halbe Meile hinausgetrieben hatte.« Die Tatsache, dass der Mann aus New Jersey stammte, fiel ihr ins Auge, doch er hatte einen anderen Namen, und so ging sie zum nächsten Beitrag über. Direkt daneben fand sich ein Artikel mit der Überschrift: STADTRAT VON TISBURY LEHNT ÄNDERUNGSVORSCHLAG ZU SONNTAGSGESETZEN AB.
Sie starrte einen Moment auf die Seite und dachte: Vielleicht findet sich was auf einer Innenseite, und sie machte sich daran, die ganze Zeitung durchzublättern. Es gab nichts, was ihr ins Auge gesprungen wäre. Das übliche Einerlei aus Alltagsneuigkeiten im Stil der Kleinstadtreportage füllte die Zeitung. Ein paar Hochzeiten. Landwirtschaftsberichte, wer wen besucht hat; vorsichtige Schätzungen der Zeckenpopulation in den Wäldern. Warnungen vor Muschelvergiftungen. Fotoberichte über prämierte Apfeltorten auf der Kirmes von Tisbury. Geschichten, die das Leben schreibt. Sie wandte sich noch einmal der Titelseite zu und betrachtete das Bild mit den Schwertfischfängern. Es war keine Quellenangabe darunter. Sie starrte eine Weile auf die Komposition und fragte sich: Ist das von ihm? Die Augen der Fischer schienen auf dem Papier zu brennen, während das tote Auge eines ihrer Opfer in unheimlichem Kontrast dazu stand. Es wäre sein Stil, dachte sie. Doch sie
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