Der Fotograf
sie über die Straße auf das Gebäude zu, doch statt den Haupteingang zu nehmen, beschleunigte sie ihre Schritte und lief um die nächste Ecke. Im Nu hatte sie das angelehnte Fenster entdeckt, mit dem er die Wohnung lüftete.
Kein Wenn und Aber, mahnte sie sich. Tu’s einfach.
Sie schnappte sich eine blecherne Mülltonne und stellte sie an die Wand. Dann kletterte sie auf den Deckel und stieß auch schon das Fenster auf. Mit einer einzigen Bewegung hatte sie das dürftige Fliegengitter weggedrückt und war hineingehechtet,wo sie wie ein ungeschickter Wasservogel unsanft auf dem Boden des Wohnzimmers landete.
Sie rappelte sich auf und schloss rasch das Fenster hinter sich.
Ihr kam der irritierende Gedanke, dass sie soeben ihren ersten Einbruch absolviert hatte, und gar nicht mal schlecht. Sie ließ ein paar Dutzend Einbrecher und Diebe unterschiedlichster Couleur Revue passieren, die sie im Lauf ihrer Dienstzeit verhaftet hatte. Vor ihrem geistigen Auge standen sie Spalier und applaudierten. Ab jetzt gehöre ich dazu, dachte sie.
Sie schaute sich um und empfand einen Augenblick Widerwillen gegen die verstreuten Kleider und die willkürliche Anordnung der Möbel. Doch das Gefühl verging so schnell, wie es gekommen war.
Es erinnerte sie an ihre Besuche bei John Barren in seinem ersten Studienjahr, bevor sie zusammenzogen. Sie grinste bei dem Gedanken an die Socken, die in der Ecke gammelten, die Unterwäsche, die in trauter Nachbarschaft mit Lektürelisten und Kursbeschreibungen in einem metallenen Aktenschrank verstaut war. Zumindest, hatte sie ihm gesagt, hast du sie unter »U« abgelegt. Auch John hatte in einem ziemlichen Durcheinander gehaust, als könnte er in einer chaotischen Umgebung besser den Kopf freihalten. Dann dachte sie, dass sie wohl nur die Erinnerung verklärte, dass er wohl in Wahrheit einfach einer von vielen Männern war, denen die Mutter alles hinterhergeräumt hatte; als ob die alte Dame wundersamerweise selbst am College regelmäßig erscheinen und ihm die Socken aus den Ecken holen würde, um sie ihm frisch gewaschen und ordentlich zusammengerollt wieder abzuliefern. Dabei lag er mit dieser Einstellung sogar richtig, dachte sie mit einem Lächeln: Das war beinah das Erste, was du gemacht hast. Seine verdammte Wäsche. Du hast dir, kaum dass seine anderen Kommilitonen draußen waren, den Wäschebeutelgeschnappt, seine dreckigen Sachen eingesammelt und zum nächsten Waschsalon gebracht. Sie hätte am liebsten laut gelacht.
In diesem Moment hörte sie ein Geräusch im Flur und erstarrte vor Angst.
Blitzschnell versuchte sie, die Wahrnehmung einzuordnen: War es eine Stimme gewesen? Das Öffnen einer Tür? Schritte? Sie schluckte schwer und horchte angestrengt, während ihr Herz laut pochte.
Sie zog die Neunmillimeter aus dem Gürtel und wartete, ohne sich zu rühren. Ich muss verrückt sein, dachte sie. Steck die verdammte Waffe weg. Falls er das ist, rede einfach wie ein Wasserfall. Er wird sauer sein, aber wissen, wieso du hier bist.
Stattdessen richtete sie die Waffe auf die Tür und wartete.
Ihr kam der entsetzliche Gedanke: Es ist der Bruder!
Sie hatte das Gefühl, als bräche ein gewaltiges, unbeherrschbares Übel über sie herein und erfüllte den ganzen Raum wie der Rauch von Feuer. O Gott, er hält ihn hier versteckt! Die machen gemeinsame Sache! Er ist hier!
Sie kauerte sich hin und versuchte, ihr rasendes Herz und ihre zitternde Hand zur Ruhe zu bringen. Sie befahl sich, cool zu sein. Ihr Griff wurde fest, ihr Atem stetig. Sie zielte, so wie sie es schon Hunderte Male auf dem Schießplatz gemacht hatte.
Erwisch ihn mit dem ersten Schuss, wies sie sich an.
Ziel auf die Brust, das legt ihn lahm. Dann gib ihm mit einem zweiten Schuss in den Kopf den Rest.
Sie schloss ein Auge und wartete auf das nächste Geräusch.
Doch es blieb aus.
Sie blieb in Schießstellung. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich überhaupt rühren und die Muskeln entspannen konnte. So vergingen dreißig Sekunden. Dann eine ganze Minute. DieAnspannung schien die Zeit in die Länge zu ziehen, auch wenn die Welt voreilig in Schweigen verfallen war.
Sie hielt die Luft an, bis es nicht mehr ging, dann atmete sie in einem langgezogenen Pfeifton aus.
Langsam ließ sie die Pistole sinken.
»Es ist niemand da«, flüsterte sie. Es war beruhigend, die eigene Stimme zu hören.
»Du bist völlig übergeschnappt«, fuhr sie im Flüsterton fort. »Und jetzt lungere hier nicht länger herum, sondern sieh zu,
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