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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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zu tun. Vielmehr erzählte er, wo die besten Blaubeeren oder die geheimen Pfade zu den Stränden zu finden seien. Er fuhr sie zu den Gay-Head-Kliffs hinaus und lief mit ihr zum Rand der Felsen, damit sie aufs Meer hinaussehen konnten. Da, wo die Wellen an den Strand schlugen, sah sie weißen Schaum, und trotz der Dunkelheit konnte sie in der schwarzen Weite große Brecher ausmachen. Sie spürte eine stete Brise im Gesicht, die guttat. Dennoch war ihr die schwindelerregende Höhe unbehaglich, und einen Moment lang sah sie vor sich, wie sie über die steilen rotgrauen Kliffs ins Nichts stürzte. Sie fühlte seine Hand auf ihrem Arm, und sie sah, dass er in die schwarze Meeresnacht zeigte.
    »Da draußen«, erzählte er, »gibt es eine Insel, die heißt No Man’s Land, dort testet die Marine Waffen. An einem klaren Tag kann man sie sehen, und wenn der Wind richtig steht, hört man sogar gelegentlich das Donnern der Sprengstoffexplosionen. Ich wollte schon immer mal hin, seit meiner Kindheit. Nicht wegen der Trainingsdurchgänge der Marine, die durchaus interessant sind – manchmal kann man die Kondensstreifen der Düsenjets sehen –, sondern weil ich wissen wollte, wie es da aussieht, nachdem es über so viele Jahre hinzerbombt worden ist. Wie eine Zukunftsvision, könnte ich mir denken …
    Bin aber nie rübergefahren. Einmal, noch als Kind, war ich nahe dran, als wir geangelt haben. Wir hatten einen tollen Fang gemacht, als plötzlich ein Hubschrauber der Küstenwache über uns kreiste und uns anwies, wir sollten zusehen, dass wir da wegkommen.«
    Er lachte.
    »Wir haben gehorcht.«
    »Sind Sie mit Ihrer Familie oft hier rausgekommen?«, fragte sie.
    »Ein paar Sommer lang. Irgendwann, als Teenager, nicht mehr.« Er sah sich um.
    »Es hat sich verändert. Dieselbe Insel, aber anders. Manches ist neu, vieles ist wie früher. Es gibt Stabilität und Kontinuität. Aber auch Wachstum.«
    Wieder lachte er.
    »Alles verändert sich. Alles bleibt, was es war. Wie das Leben selbst.«
    Er dachte an den Pass, das Flugticket und das Geld in seiner Aktentasche. Wie ich.
    Sie stiegen wieder ins Auto, und er steuerte langsam die Mitte der Insel an. Sie wagte nicht, ihn nach der Unterkunft oder seinen Plänen zu fragen.
    Jeffers wunderte sich, dass er statt seiner gewohnten, angespannten Freude auf einmal eine Art gemächliche, fast träge Behaglichkeit empfand. Er fühlte sich ein wenig berauscht, so als hätte er von einem ausgezeichneten Wein ein paar Schluck zu viel getrunken und sei etwas beschwipst. Nachdem er sich die ganze Zeit so streng an seine Vorgaben gehalten und alles bis zu den Fährtickets genauestens geplant hatte, sah er sich jetzt nicht mehr zur Eile genötigt. Diesen letzten Akt wollteer auskosten, in die Länge ziehen. Der Gedanke ging ihm ins Blut, er prickelte ihm in den Adern. Er horchte auf seinen eigenen Herzschlag und dachte daran, dass es nicht leicht würde, seiner alten Identität Lebewohl zu sagen. Denk einfach nur daran, wie du dir eine neue schaffst.
    Sie kamen durch das Städtchen West Tisbury, und Jeffers ermahnte sich, ganz bei der Sache zu bleiben. Nicht mehr weit, dachte er. Er nahm innerlich Haltung an und konzentrierte sich auf die anstehenden Probleme.
    Anne Hampton warf einen Seitenblick auf Jeffers und sah, dass er plötzlich wach und gestrafft aussah. Er hatte sich ein wenig vorgebeugt, und das bedeutete, dass etwas bevorstand. Augenblicklich verspannte sie sich und rutschte an den Rand ihres Sitzes.
    Er hatte so viel von einem Ende gesprochen, und sie vermutete, dass dies der Anfang davon war. Sie merkte, wie auch bei ihr alle Schläfrigkeit verflog. Sie nahm ihre Gefühle an die Kandare, um wie kurz vor einer Schlacht die nötigen Kraftreserven zu sammeln, die im kritischen Moment über Sieg oder Niederlage entscheiden konnten.
    Jeffers bog in eine ungeteerte Nebenstraße ein, und wenig später holperten sie einen Feldweg entlang. Die dichten Büsche und knorrigen Bäume der Insel schienen sie wie ein Tunnel zu umschließen, und sie hatte schlagartig das Gefühl, als hätten sie einen Sprung aus der Zivilisation an einen wilderen, prähistorischen Ort gemacht. Der Wagen hob und senkte sich, und gelegentlich drehten für einen Moment die Reifen durch, während sich der Innenraum mit den kratzenden und schabenden Geräuschen von Büschen füllte, die an das Autoblech peitschten. Nach einer ungefähren holprigen Meile immer tiefer in den Dünenwald hinein, gelangten sie an eine

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