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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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der Dunkelheit. Die Fähre selbst glimmte im Licht der Straßenlaternen und Autoscheinwerfer. Auf der Straße wartete eine Fahrzeugschlange, die von einem Teenager mit Baseballkappe und Walkie-Talkie abgefertigt wurde. Jeffers kurbelte die Scheibe herunter.
    »Ich habe eine Reservierung für die Fähre um halb neun«, erklärte er.
    »Großartig«, erwiderte der Junge. Für Anne Hampton sah er haargenau so aus wie die jungen Männer im Jeep die Nacht davor. »Fädeln Sie sich einfach hinter dem Kombi da ein.«
    Jeffers folgte seiner Anweisung. Er zog Tickets aus der Tasche und zeigte sie einem anderen Teenager.
    »Weißt du, was ich an dieser Fähre schon immer mochte?«, wandte er sich an Anne Hampton. Er wartete keine Reaktion ab. »Sie hat dieses vollkommen funktionale Design. Das Boot hat keine Vorder- und keine Rückseite. Ich meine, beide sehen gleich aus. Man fährt in Woods Hole drauf und in Vineyard Haven runter. Auf beiden Seiten hat sie diese riesige Öffnung. Das Ding pendelt wie ein Jojo zwischen den beiden Anlegestellen.«
    Sie blickte hinüber und sah die Menschenströme, die sich durch das geduckte Fährdienstgebäude neben dem Pier drängten. Sie sah, wie sich eine Gruppe Biker an die Spitze der Autoschlange setzte. Sie beobachtete, wie das Deckpersonal die anfahrenden Autos in eine Öffnung auf der Fähre winkten, die in schroffem Schwarzweiß vor dem dämmrigen Abendhimmel klaffte. Von ihrem Standpunkt aus konnte sie nicht das offene Wasser sehen, sondern nur durch Jeffers geöffnetes Fenster die Seeluft riechen.
    »Wo …«
    »Die Insel Martha’s Vineyard«, antwortete er. »Sommerresidenz der oberen Zehntausend. Altes Geld, neues Geld, alle bescheiden in Jeans und Arbeitshemden gekleidet. Da haben sie
Der weiße Hai
gedreht …« Er sang ein paar Takte des bekannten, unheilverkündenden Soundtrack. »Unter anderem auch alle möglichen Kennedys. Erinnerst du dich, wie Teddy von Chappaquiddick nach Edgartown geschwommen ist? Jedenfalls hat er das behauptet. Jackie O. hat da ein Domizil, ebenso Walter Cronkite, die halbe Redaktion der
New YorkTimes
und mehr Dichter und Romanschriftsteller pro Quadratmeter, als du zählen kannst. John Belushi besaß für ungefähr fünf Minuten ein Haus in Chilmark, bevor es ihn in Los Angeles erwischte, und jetzt ist er hier begraben. An einem wunderschönen Ort namens Abel’s Hill. Diesen Friedhof lieben die Jugendlichen. Sie feiern an seinem Grab. Es ist eine sehr wohltuende Insel«, erzählte Jeffers. »Atmet die feine Lebensart der Ostküsten-Elite. Sie ist ruhig, angenehm, schön und gemächlich. Wenn sich die Insulaner mal über einen Mangel an Schwertfischsteaks oder zu viele Mopeds auf den Straßen aufregen, ist das schon viel. Es herrscht eine freundliche Atmosphäre, und man weiß die angenehmen Seiten des Lebens zu schätzen, die sich jeder leisten kann, der über einen Haufen Geld verfügt und die Tatsache mit ausgewaschenem Denim kaschiert. Eine Menge gute Leute, die in intellektueller Harmonie zusammenleben. Vom ersten Juni bis zum Labor Day.«
    Er schwieg, bevor er hinzufügte:
    »Der ideale Ort für ein unaussprechliches Ereignis.«
     
    Jeffers fuhr plan- und ziellos quer über die Insel, durch ein Netz enger, unbeleuchteter Straßen. Die Scheinwerfer schnitten bizarre Formen in den leichten Nebel zwischen den Bäumen. Hinter einer Häuserecke begegneten sie plötzlich einer großen Ohreule, die sich an einer Bisamratte oder einem Kaninchen satt fraß, das den Weg über die Straße falsch eingeschätzt hatte. Der Vogel breitete die weißen Schwingen aus und stieß angesichts der unhöflichen Störung einen verärgerten Schrei aus. Er erhob sich wie ein Gespenst direkt vor der Kühlerhaube, und einen Moment fürchtete Anne, es gäbe einen Zusammenstoß, so dass es ihr einen Stich versetzte.
    Sie wusste nur, dass es weit nach Mitternacht war und auf denMorgen zuging. Jeffers schien ständig unter Adrenalin zu stehen und redete in angeregtem Ton unermüdlich drauflos.
    Er fuhr wiederholte Male zahlreiche Straßen entlang, so dass Anne Hampton trotz seiner laufenden Reisekommentare irgendwann die Orientierung verlor. Er zeigte auf verschiedene Örtlichkeiten und verband sie mit bestimmten Erinnerungen, so wie es jedem ergehen musste, der nach vielen Jahren einen Lieblingsort besucht.
    Sie versuchte, sich Notizen zu machen, stellte jedoch fest, dass er von einer banalen Erinnerung zur nächsten sprang. Keine davon hatte irgendetwas mit Sterben oder Tod

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