Der Fotograf
unter der sengenden Sonne patrouillierte, hatte er in irgendeinem Winkel seines Bewusstseins gespürt, dass an diesem Tag etwas nicht stimmte, obwohl alles so aussah, so roch und so klang wie an jedem anderen Tag?
Selbst wenn, er hätte es abgeschüttelt und wäre weitermarschiert, dachte sie.
Marschiere weiter.
Tu, was du tun musst, hätte er zu ihr gesagt. Tu, was richtig ist.
Sie streckte die Hände vor sich aus. Sie zitterten nicht.
Sie drehte die Handflächen nach oben. Trocken.
Halt dich bereit.
Dann ballte sie die Hände zu Fäusten.
Such dir dein Schlachtfeld aus, sagte sie innerlich und richtete ihre mentale Energie auf den schimärenhaften Douglas Jeffers. Tu was. Melde dich bei deinem Bruder.
Sie dachte an Martin Jeffers. Sie sah auf die Uhr an der Wand. Er ist auf dem Weg zu dieser verdammten Gruppe, dachte sie frustriert. Ich hänge hier fest und warte darauf, dass ihm endlich etwas einfällt, dass er einen Anruf von seinem Bruder bekommt oder auch eine Postkarte mit den Zeilen: Hi! Ich habe viel Spaß! Wünschte, du wärst hier!
Wieder stieg in ihr Wut auf, und sie marschierte zum hundertsten Mal im Zimmer auf und ab. Ihr war sehr wohl bewusst, wie hartnäckig sie sich an den Bruder klammerte, wie sehr sie auf ihn angewiesen und dazu verdonnert war, zu warten. Das Schwerste von allem.
Martin Jeffers starrte in die Runde der versammelten Männer und sah, dass er die ganze Zeit vollkommen falschgelegen hatte, wenn er sie wegen ihrer Schwäche und ihrer Perversionen bedauerte, wo doch seine eigene blinde Duldung und Tatenlosigkeit unendlich viel niederträchtiger war.
Ödipus stellte sich wenigstens dem Entsetzlichen und riss sich die Augen aus dem Gesicht. Seine Blindheit war gerecht. Martin Jeffers musste traurig lächeln, wenn er daran dachte, wie sehr der Ödipus-Mythos seiner Zunft heilig war. Aber wir schließen die Augen vor dem, was später kam. Wir machen unsnicht klar, dass der einstige König, nachdem er seiner Begierde nachgegeben und eine schwere Schuld auf sich geladen hatte, gezwungen war, blind und in Lumpen gehüllt durchs Leben zu tappen, während ihm die Verzweiflung wie Zentnergewichte an den Füßen hing.
Er fragte sich, ob ihm selbst die Verzweiflung ebenso deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Er versuchte, den gewohnten, halb distanzierten, professionellen Ausdruck aufzusetzen und in die Mitte des Raums zu starren, doch er wusste, dass es nicht ging. Misstrauisch beäugte er die Männer gegenüber.
Die Lost Boys waren rastlos. Sie rutschten unruhig auf ihren Stühlen umher und rumorten dabei so unangenehm wie leise. Er wusste, dass ihnen seine Erschöpfung bei der Sitzung tags zuvor nicht entgangen war. Er wusste auch, dass er eine weitere schlaflose Nacht hinter sich hatte und dass er seine desolate Verfassung nicht verbergen konnte. Nach seiner nächtlichen Rückkehr aus New Hampshire hatte er den Montag in somnambulem Zustand hinter sich gebracht und der üblichen Mischung aus banalen Klagen und Wehwehchen, die seinen Alltag ausmachten, kaum Beachtung geschenkt. Er hatte gehofft, ein geregelter Tagesablauf würde ihm guttun und die quälenden Emotionen etwas zurückdrängen, doch er stellte fest, dass sie übermächtig waren. Er konnte an nichts anderes als seinen Bruder denken.
Er fühlte, wie in ihm blanke Wut hochstieg.
Er sah Douglas Jeffers vor sich in seiner gewohnt lässigen Haltung mit einem Grinsen, als perlte alles an ihm ab.
Dann verdüsterte sich das Bild, und er erkannte in seinem Bruder Bitterkeit, gepaart mit einem tödlich entschlossenen Blick: das Raubtier, eiskalt auf der Lauer.
Ein Killer.
Warum hast du das getan?, fragte er den Mann vor seinemgeistigen Auge. Wie bist du zu dem geworden, was du bist? Wie kannst du immer und immer wieder so etwas tun, ohne dass man es dir auf Schritt und Tritt ansieht?
Doch der Bruder in seinem Kopf verweigerte ihm die Antwort, und Martin Jeffers erkannte, wie albern seine Fragen waren. Selbst wenn es lächerlich ist zu fragen, bleibt mir trotzdem nichts anderes übrig.
Er merkte, wie sich seine Hände um die Armlehnen krallten und seine Wut zu brodeln begann. In Gedanken schrie er seinen Bruder an: Wieso hast du das getan? Wieso? Wieso?
Und dann in rotglühendem Zorn:
Wieso tust du mir das an?
Er holte tief Luft und blickte wieder die wartende Therapiegruppe an. Er wusste, dass er etwas sagen musste, um die Kommunikation in Gang zu setzen; danach konnte er in ihren Gesprächsfluss abtauchen. Doch
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