Der Fotograf
verschwunden.
Für einen Moment wallte die Wut in ihr auf, doch sie verflog so schnell, wie sie kam. Sie empfand nichts als eine große, graue Wolke der Niederlage und die blanke Verzweiflung.
Auf der Route 95 hatte sich nicht weit von Mystic, Connecticut, ein Sattelschlepper quer gestellt und einen zehn Kilometer langen Stau verursacht. Martin Jeffers wandte sich aufseinem Sitz um, während sein Gesicht von den gelben und blau en Signallampen des Abschlepp- und des Streifenwagens der Staatspolizei erleuchtet wurde. Alle paar Sekunden blinkten die Rücklichter des Wagens vor ihm auf, und er musste auf die Bremse treten. Er hasste die Blockade, die dem gewaltigen Ansturm der Erinnerungen aus den tiefsten Winkeln seines Unterbewusstseins Einhalt gebot. Er versuchte, an die guten Erlebnisse zu denken, die sie miteinander verbanden, Momente, von denen die Beziehung zwischen den Brüdern zehrte: eine Nacht beim Camping; das Basteln an einem Baumhaus; eine stockende, peinlich bemühte Unterhaltung über Mädchen, Bekenntnisse über Masturbation. Bei dem Gedanken schmunzelte er. Doug bekannte sich grundsätzlich zu gar nichts, hatte aber stets den Rat eines versierten Fachmanns parat, egal zu welchem Thema. Er erinnerte sich an eine Begebenheit, als er sechs oder sieben Jahre alt gewesen war und ihm andere Jungen aus der Nachbarschaft, bis an die Zähne mit Schneebällen bewaffnet, aufgelauert hatten. Er hatte vor den Geschossen und den Hänseleien nicht schnell genug flüchten können. Es war eine harmlose Herausforderung gewesen, die nichts mit Rivalität oder Feindseligkeit zu tun gehabt hatte, sondern nur mit fünfzehn Zentimetern Neuschnee und mit dem Umstand, dass sie deshalb schulfrei hatten. Doug hatte sich seine Geschichte mit der Attacke aus dem Hinterhalt angehört, sich dann seelenruhig Schal, Wintermantel sowie Stiefel angezogen und war mit ihm im Schlepptau zur Hintertür hinausmarschiert. Dort hatte sein Bruder ihn um die Veranda, dann um den Block und schließlich wieder zurück, damit jedoch hinter die feindlichen Linien geführt, wo sie die letzten fünfzig Meter im Schutz einer weißbekrönten Hecke auf dem Bauch gekrochen waren. Ihr strategisch durchgeführter Einsatz hatte mit einem glänzenden Sieg geendet.Zwei volle Schneeladungen explodierten exakt in den Gesichtern der Peiniger, bevor sie die geringste Ahnung hatten, woher die Granaten kamen.
Schon damals, musste Martin Jeffers plötzlich denken, verstand es Doug, einem Opfer aufzulauern.
Er blickte nach vorne in orange leuchtendes Licht. Ein Vertreter der Staatspolizei winkte mit einer Taschenlampe energisch die Wagenkolonne durch. Dennoch fuhren einige Autos langsamer, um einen Blick auf das Wrack zu erhaschen.
Katastrophen üben auf uns alle eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, dachte Martin Jeffers.
Wir verrenken uns den Hals, um einen Alptraum zu sehen. Wir fahren extra langsam, um das Elend genauestens zu inspizieren.
Er wünschte sich plötzlich, frei von Neugier zu sein, doch das war er nicht. Auch er drosselte das Tempo, als er vorüberfuhr, und sah für den Bruchteil einer Sekunde eine reglose, mit einem Tuch bedeckte Gestalt am Boden liegen.
In grauer Vorzeit, sagte er sich, wäre ein Wanderer angesichts eines solch ungünstigen Omens umgekehrt und hätte dem Himmel dafür gedankt, dass er ihn vor der drohenden Tragödie mit einem solchen Zeichen warnte. Aber ich bin ein moderner Mensch. Ich bin nicht abergläubisch.
Er fuhr weiter. Er sah auf die Armbanduhr und wusste, dass er die letzte Fähre nach Woods Hole verpassen würde. Verdammt, fluchte er. Ich muss das erste Boot morgen früh erwischen. Er hoffte, dass es immer noch um sechs Uhr fuhr. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, Detective Barren anzurufen, sobald er an Bord war; nicht, um ihr zu verraten, wo er war, sondern um sich bei ihr zu entschuldigen und ihr zu erklären, dass er nur tat, was er tun musste, was ihm Fleisch und Blut befahlen. Er wollte, dass sie ihm verzieh.Er wollte, dass sie sich selbst verzieh. Sie wird sich vorwerfen, dass sie mich aus den Augen gelassen hat, und wenn auch nur für wenige Minuten. Sie sollte sich klarmachen, dass es ein Dutzend Gelegenheiten gab, bei denen ich sie hätte im Stich lassen können. Er wusste genau, dass diese Art von Erklärungsversuchen sie in Rage versetzen würde. Nun ja, dachte er, mit New Hampshire hast du verkehrt gelegen. Vielleicht irrst du dich auch mit Finger Point. Der Kopf gaukelt dem
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