Der Frauenhaendler
im Verborgenen lassen erheblich zu wünschen übrig. Ich habe das Haus gesehen, in dem Daytona gestorben ist. Ich habe das Haus gesehen, in dem Lucio und die anderen gestorben sind.
In Bonifacis Villa waren die Umstände sicher andere.
Und doch sind alle auf dieselbe Weise gestorben.
Ich nehme die Mappe von der Kommode und setze mich aufs Sofa, das mich mit dem Rascheln der Plastikfolie empfängt. Auf dem Pappdeckel klebt ein weißes Etikett. Eine eilige Hand hat es mit schwarzer Tinte beschriftet.
Dädalus und Ikarus.
Das sagt mir nichts, obwohl ich eine Weile darüber nachdenke. Ich streife das Gummiband ab, schlage den Deckel auf und klappe die Pappstreifen zurück. Im Innern befinden sich Fotos und ein Bündel Papiere. Ich nehme alles heraus und fange an zu blättern, erst langsam, dann immer erregter. Als ich am Ende angekommen bin, schaue ich alles noch einmal in Ruhe durch. Diese Papiere und Schnappschüsse führen direkt in die Unterwelt. Meter um Meter und ohne den geringsten Skrupel wurde der Stollen dorthin gegraben und von einem unbändigen Ehrgeiz in die richtige Richtung gelenkt. Fast kann man den Verstand verlieren, wenn man ihm folgt, da kaum zu fassen ist, wozu die menschliche Niedertracht fähig ist. In dieser Dokumentation befinden sich Beweise, die dafür sorgen könnten, dass ein Richter so einige Personen hinter Gitter wandern lässt, vorausgesetzt, dass ihm niemand den Weg versperrt.
Ich schließe die Mappe und lasse mich gegen die Rückenlehne des Sofas sinken.
Die Decke ist ein Bildschirm, an den mein Geist Bilder projiziert. Gesichter, Orte, Farben, alles sehe ich wieder vor mir. Dort sind Straßen, Personen, Ausschnitte vom Meer, die Spiele eines Kindes, die Liebschaften eines Mannes, unsichere Verstecke.
Dann beginne ich plötzlich und ohne jede Vorwarnung zu lachen.
Ich lache über mich, wegen all der vergangenen Jahre, in denen ich einen Verdacht hatte, der jetzt zur Gewissheit geworden ist. Ich lache wegen der Rasierklinge, die mich dazu verdammt hat, zeit meines Lebens ein Zuschauer zu sein, während ich mir in meiner Dummheit eingebildet habe, wenigstens ein paar Fäden in der Hand zu halten. Ich lache wegen Carla und wegen sämtlicher Flugzeuge, die leider früher oder später landen werden. Ich lache wegen Barbaras Brüsten und Cindys weißer Haut und wegen Laura, die verliebt war und verraten wurde. Ich lache wegen Lucio und seiner seelenlosen Musik und wegen all der sinnlosen Jahre der Verstellung. Ich lache wegen Giorgio Fieschi, der in rauschendem Applaus hätte leben können und stattdessen im leisen Zischen einer Pistole mit Schalldämpfer gestorben ist. Ich lache wegen Daytona und seiner Uhr und den beiden Strähnen, die seine Hand noch im Moment des Todes zurechtlegen wollte. Ich lache wegen Tano Casale und seiner Stimme, die ich kenne. Ich lache wegen der Männer, die sich bereiterklärt haben, andere zu beschützen, und niemanden gefunden haben, der sie beschützt. Ich lache wegen der Ideale, die den Tod bringen, und über den Tod der Ideen. Ich lache, weil manchmal nur die Dummen und die Unschuldigen kein Alibi haben. Ich lache, weil Chaos und Zufall die Welt nicht regieren, sondern zerstören.
Ich lache und lache und lache.
So sehr, dass mir die Lungen wehtun, weil ich nicht mehr atmen kann. So sehr, dass ich fürchte, jemand könnte an die Wand klopfen, um diesem Lärm Einhalt zu gebieten. So sehr, dass ich plötzlich auf dem Sofa liege und die Plastikfolie an meinem tränenüberströmten Gesicht klebt.
Als das Gelächter aufhört, bleiben nur die Tränen.
Tränen der Befreiung, des Schmerzes, des Abschieds.
Ich reiße mich zusammen und stehe auf. Ich weiß, was ich zu tun habe. Als Erstes muss ich so schnell wie möglich meinen Anwalt auftreiben, Ugo Biondi. Ich versuche es unter seiner Büronummer, eher der Vollständigkeit halber als aus sonst irgendeinem Grund. Dass ich ihn heute dort antreffe, ist sehr unwahrscheinlich, aber ich darf keine Möglichkeit unversucht lassen. Tatsächlich klingelt das Telefon lange, ohne dass sich jemand meldet. Ich hatte gehofft, dass er vielleicht einen Fall vorbereiten muss, der am Montag verhandelt wird, aber das war ein Irrtum. Ugo ist alles andere als ein Workaholic. An dem Tag, an dem der Titel eines Ritters des Müßiggangs eingeführt wird, ist er einer der Ersten, die ihn verdienen.
Als ich die Nummer zu Hause wähle, ist das Ergebnis dasselbe. Ich stelle mir ein Telefon vor, das in einer leeren Behausung
Weitere Kostenlose Bücher