Der Frauenhaendler
Moment ein, als mir klar wird, dass alles getan ist.
Hier bin ich, immer noch auf den Beinen, endlich ruhig. Die Spannung, die Angst, die Aufregung sind mit einem Schlag verschwunden, und jetzt, da der Wind sich gelegt hat, fühle ich mich hohl wie ein Schilfrohr. In meinen Adern befindet sich kein Milligramm Adrenalin mehr, vielleicht nicht einmal mehr ein Tropfen Blut. Mit Sicherheit hat es sich über irgendeinen Boden ergossen, und ich liege mitten in einem Zimmer und bilde mir nur ein, lebendig zu sein.
Deshalb also ist mein Schlafbedürfnis so gewaltig. Weil der Schlaf das Element der Toten ist.
Ich betrachte die Mappe, die auf der Kommode liegt, angefüllt mit ihren Geheimnissen. Mich packt nicht einmal die Neugierde, hinzugehen und sie aufzuklappen und einen Namen in Erfahrung zu bringen. Die Ereignisse der letzten Tage gehören der Vergangenheit an, und wie bei allen vergangenen Dingen bin ich mir sicher, dass weder ich noch andere etwas daraus lernen können. Alles, was ich weiß, ist, dass ich eine Chance hatte und sie verpasst habe.
Das Chaos und der Zufall, erinnerst du dich?
Ich gehe ins Schlafzimmer, strecke mich auf der Matratze aus und schiebe ein unbezogenes Kissen unter meinen Kopf. Praktisch im selben Moment bin ich schon eingeschlafen. Mein letzter Gedanke, bevor ich in den Schlaf hinübergleite, lautet, dass Carla mich um sechs Stunden gebeten hat.
Erste Stunde.
Ich schlafe.
Carla fährt mit dem Auto durch die Straßen von Mailand. Es ist ein strahlender Sonntagmorgen. Ein träger Tag für den Rest der Welt. Ein atemloser für sie. Den Wagen lässt sie auf irgendeinem Parkplatz am Flughafen Linate stehen, denn sie weiß, dass sie nie zurückkehren wird, um die Gebühr zu bezahlen. Ihre Spuren zu verwischen versucht sie erst gar nicht. So wie die Dinge stehen, war es auch überflüssig, in dem Haus an der Rivoltana die meinen zu beseitigen. Ein paar Kilometer weiter, in einem abgelegenen Wohnhaus voller Leichen, bannen Fotografen gerade die Positionen von Körpern auf Filmrollen. Die Blitzlichter der Kameras suchen in den erloschenen Augen vergeblich Reflexe des Lebens. Techniker von der Spurensicherung stellen Messungen an, um herauszubekommen, womit da geschossen wurde und wie oft und von welchem Standort aus.
Zweite Stunde.
Ich schlafe.
Carla besorgt sich eine Gepäckkarre, hievt die Koffer darauf und denkt, dass das Überleben manchmal sein Gewicht hat. Sie betritt das Terminal und steht vor der Abflugtafel. Buenos Aires, Rio de Janeiro, New York, Caracas, ein Ort wie der andere. Man muss nicht wissen, wohin man fährt, man muss nur wissen, wann die Reise losgeht. Ein paar Kilometer weiter, in einem abgelegenen Wohnhaus, fahren Autos vor, die andere Autos eskortieren, in denen hohe Tiere sitzen. Jene, die vor Ort entscheiden, was zu tun, was zu sagen und was zu verschweigen ist. Männer laufen herum, zeigen, stellen Vermutungen an, studieren Papiere, sprechen Namen aus. Einer davon ist meiner.
Dritte Stunde.
Ich schlafe.
Carla hat ein Ticket gekauft, erste Klasse im erstbesten Flugzeug, das einen Platz frei hatte. Den Betrag hat sie bar bezahlt, was sie ab sofort lange wird tun müssen. Vielleicht hat sie einen falschen Ausweis vorgelegt, in dem von Carla Bonelli nur noch das Foto geblieben ist. Vorausgesetzt, es handelt sich um ihren echten Namen. Ihre wertvollen Koffer hat sie beim Check-in abgegeben, und jetzt tritt sie mit der Bordkarte in der Hand durchs Gate. Sie hofft, dass die Koffer auf der Reise nicht verloren gehen. Das Risiko besteht, aber Risiko gehört zum Leben. Zu ihrem Leben ganz besonders. Sie steigt in den Bus, der sie zum Flugzeug bringen wird, sucht sich einen Platz und wartet, dass die anderen Passagiere es auch tun. In der Reisetasche zu ihren Füßen befinden sich Kleidung und Bargeld. Die Pistole hat sie auf dem Parkplatz in einen Papierkorb geworfen. Ein paar Kilometer weiter, in einem abgelegenen Wohnhaus, erteilt der Gerichtsmediziner seine Zustimmung, dass die Leichen fortgebracht werden können. Auf dem Boden verbleiben ihre mit Kreide nachgezeichneten Umrisse und die Markierungen der Patronenhülsen. Draußen drängeln sich die Journalisten. Wie immer haben sie aus ›sicheren Quellen‹ von der Nachricht Wind bekommen und möchten jetzt mehr wissen. Das Wenige, das reicht, um die Bombe ihrer Fantasie zu zünden.
Vierte Stunde.
Ich schlafe.
Das Flugzeug steht bereit und wartet auf die Starterlaubnis. Carla hat ihre Reisetasche in der Ablage
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