Der Frauenmörder
Aber reden müssen Sie, Mensch, mir müssen Sie alles sagen!"
Auf welche Ergüsse Hartwig jedesmal ruhig lächelnd erwiderte:
"Ich werde Ihnen gar nichts sagen, lieber Herr Rechtsanwalt! Zunächst wünsche ich, daß die Staatsanwaltschaft mir meine Schuld beweist. Hat Sie dies getan, so werde ich vielleicht sprechen."
Und dabei blieb es, und Nagelstock mußte sich sagen, daß diese Taktik gar nicht die dümmste sei. Denn in noch größerer Verlegenheit als er befand sich der erste Staatsanwalt am Landgericht Berlin I, Hellmut Röhrich, der die Anklage vertreten mußte.
Ja, welche Anklage denn eigentlich? Zweifellos hatte Hartwig die Müller, die Möller, die Jensen, die Pfeiffer und die Cohen ermordet und beraubt. Also fünffacher Raubmord. Wo aber waren die "Corpora delicti", wo die Leichen oder wenigstens Teile von ihnen oder zumindestens Gegenstände aus dem Besitz der Weiber, aus deren Beschaffenheit man auf Mord hätte schließen können? Vergebens hatte man wieder und immer wieder die ganze weitere Umgebung Berlins in einem Umkreis von hundert Kilometern, die Gehölze, die Seen und Flüsse abgesucht. Nichts hatte man gefunden. Auch die verschiedenen Haussuchungen im Zimmer Hartwigs und in der ganzen Wohnung der Frau Armbruster waren ergebnislos verlaufen. Nicht ein Band, nicht ein Schmuckstück, nichts fand sich vor, was einer der Ermordeten hätte gehören können. Und dazu kam noch, daß dieser Krause, seit er wieder Joachim von Dengern war, die Behörden vollständig im Stich ließ. Wohl blieb der Kriminalkommissär Dr. von Dengern des öfteren seinem Bureau ferne, weil er angeblich in Sachen Hartwigs Nachforschungen anstellte, in Wirklichkeit aber hatte man von ihm keine Hilfe mehr gefunden, der Fall Hartwig schien für ihn erledigt, er hüllte sich in eisiges Schweigen, und so oft der Staatsanwalt ihn zu sich bat, um die Angelegenheit mit ihm zu besprechen, erklärte er immer wieder achselzuckend:
"Ich habe meine Schuldigkeit getan, tun Sie nun die Ihrige und erheben Sie getrost die Anklage."
Bis eines Tages im Oktober der Staatsanwalt sich wirklich entschloß, die Anklage gegen Thomas Hartwig wegen Meuchelmord, begangen an Trude Müller, Grete Möller, Annemarie Jensen, Käte Pfeiffer und Selma Cohen zu erheben. Eine rein auf Indizien gestützte Anklage, wie sie eigenartiger, bedenklicher und doch schließlich begründeter kaum jemals in den Annalen der deutschen Rechtsgeschichte erhoben worden war.
Nagelstock aber rieb sich vergnügt die Hände. Er wußte ganz gut, daß er von vornherein Einspruch gegen die Klageerhebung hätte einlegen können, daß es schließlich nicht so unmöglich wäre, den Prozeß, wenn schon nicht zu verhindern, doch auf Monate hinaus vertagen zu lassen. Aber darum war es ihm nicht zu tun; er brauchte und wollte diesen Prozeß und je kühner die Anklage, desto größer die Möglichkeit eines Erfolges vor den Geschwornen. Nagelstock kannte den Roman Hartwigs schon fast auswendig; er besuchte nun auch noch alle Proben des Stückes "Drei Menschen", er studierte Mantegazza und Lombroso und Krafft-Ebing, er korrespondierte mit Freud in Wien, konsultierte die bedeutendsten Psychoanalytiker der Welt, bewog Gelehrte aus Paris, London und Rom, sich als Sachverständige anzubieten, kurzum, er bereitete einen Prozeß vor, wie ihn die Welt noch nicht erlebt haben sollte.
Interessierte sich aber Dengern, seitdem er in Amt und Würden war, wirklich nicht mehr für den Fall Hartwig? Ließ er absichtlich die Anklagebehörde in Stich? Keineswegs! Ohne davon Aufhebens zu machen, forschte er weiter, tat das Möglichste, um die grauenhaften Verbrechen des Romanschriftstellers aufzuklären. Allerdings — er benahm sich nicht wie die Detektivhelden in den Romanen, er untersuchte nicht die Stiefelsohlen Hartwigs, um aus Erdklümpchen auf die Gegend zu schließen, in die der Mörder vielleicht Ausflüge gemacht hatte, er glaubte nicht an Wunder und geheime Spuren bildete sich nicht ein, auf eigene Faust Dinge zu entdecken, die Hunderten von braven, im Dienst erprobten Polizeibeamten und Gendarmen entgangen wären. Aber um so intensiver forschte er der Vergangenheit Hartwigs nach, fuhr nach Köln, um die Jugend des Mannes zu ergründen, nahm immer wieder die fünf Briefe der fünf verschwundenen Mädchen vor, konnte stundenlang ihre hinterlassenen Habseligkeiten betrachten und mustern.
In Köln machte Dengern unschwer Jugendgefährten Hartwigs ausfindig, die mit ihm dort das Gymnasium besucht
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