Der Fremde aus dem Meer
seine Frustration anwachsen. Er senkte das Fernglas und gab es Cameron zurück. Ramsey wollte nicht weiter zusehen. Jeder unbekannte Laut zerrte an seinen Nerven. Er fürchtete das Schlimmste, denn Rothmere war eine Bestie, ein Teufel in Menschengestalt, und Tess seine unschuldige Geisel.
Energisch und rhythmisch klatschten Ruder ins Wasser, und die Muskeln in Rams Schultern traten bei jedem der regelmäßigen Geräusche hervor. Er ballte die Fäuste so stark, dass die Knöchel knackten. Dumpf schlug das kleine Gigboot gegen den Schiffsrumpf, und Ramsey zuckte heftig zusammen. Sein Blick schoss zur Reling. Regungslos und mit angehaltenem Atem verharrte er, bis sich ein dunkler Schopf über dem Holz zeigte.
Er streckte die Arme aus.
»Ramsey!«, schrie Tess, als er sie über das Geländer zog, wobei seine starken Arme sie so fest umschlossen, dass sie beinahe keine Luft mehr bekam.
»Gott helfe uns, mein Mädchen«, murmelte er in ihr Haar. Dann ergriff er ihre Arme und hielt sie von sich ab, um ihre liebreizenden Züge näher zu betrachten. »Ich dachte...« Er schluckte und ließ seinen Blick noch einmal über sie gleiten, wobei er jede Schramme und jede blaue Stelle registrierte. »Ich wusste nicht...«
Tess blickte in seine glänzenden Augen und war gerührt von der Besorgnis, die sein Gesicht in Falten legte. »Es geht mir gut, Ram. Wirklich!« Sie gab ihm einen leichten Klaps auf die Wange, und es lag Stolz in ihrer Stimme, als sie sagte: »Das hast du gut gemacht, O’Keefe. Danke, dass du Jamie geschickt hast.«
»Oh, Mädchen, gern geschehen«, sagte er ernst, nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss über ihre abgeschürften Fingerknöchel. »Und Dane?« fragte er. Tess sah nackte Furcht in Ramseys dunklen Augen aufblitzen.
»Man muss sich ja fragen«, ertönte es trocken, »ob dir das nicht ziemlich gleichgültig ist, so wie du meine Frau hältst.« Ramsey sah auf, als Dane ein Bein über die Reling schwang.
»Blackwell!« Er gab Tess frei und packte Dane bei den Schultern. »Bei Gott, ich wusste, dass dich dieser Schweinehund nicht kleinkriegen würde.« Erleichterung und Hochachtung mischten sich in seiner Stimme, als die beiden Männer sich anstarrten, einander in die Arme fielen und auf den Rücken klopften. Ramsey trat einen Schritt zurück, und während das Lächeln langsam aus seinem Gesicht wich, ging sein Blick an Dane vorbei zu dem Haus, das nun ganz in Flammen stand. »Ich nehme an, er ist tot, oder?«
»Ja, Elizabeth hat ihn erschossen.«
Leise fluchend fuhr sich Ramsey mit den Fingern durch das schwarze Haar.
»Mein Gott, was ist geschehen?«
»Darüber werde ich dich später aufklären, mein Freund.« Bedeutungsvoll ging Danes Blick zu Tess hinüber, die missmutig an den Fetzen ihres zerrissenen Kleides zupfte. Einen Augenblick lang setzte Ramseys Herzschlag aus. Sie sah aus wie ein kleines, trauriges, verlassenes Kind, das keine Heimat mehr hatte.
Als Dane den Arm um ihre Taille legte und sie beruhigend an sich drückte, blickte sie zu ihm auf. Zärtlich fuhr sie mit zitternden Fingerspitzen über seine Lippen, wobei ihr Gesicht den Ausdruck innigster Liebe annahm. Ram musste den Blick abwenden. Eifersucht loderte in ihm auf. Doch es war keine Eifersucht auf Dane, der Tess für sich gewonnen hatte, sondern Neid auf ihre herzergreifende Liebe, die sie schon bei dem einfachsten Lächeln miteinander teilten. Eine solche Liebe wollte er auch. Zu einer Frau, mit der er streiten konnte und die er dennoch lieben würde. Er wollte eine Frau, für die er töten und sterben und leben könnte.
Er beruhigte sich damit, dass auch für ihn dieser Tag einmal kommen würde. Ja, seufzte er, aber wann? Wann? Und würde sie auch nur ein wenig so sein wie die temperamentvolle Tess? Würde sie ihn so nehmen, wie er war, ohne ihn verändern zu wollen? Würde sie ... lieber Gott! Du gerätst ja ganz schön in Aufruhr, dachte er, und lächelte über den Anflug von Sentimentalität. Dann gab er, als der letzte Seemann an Bord war, den Befehl, den Anker zu lichten. Leinwand entrollte sich, fing den Wind auf und die Schaluppe trieb schnell aus der Bucht in Richtung Sea Witch.
Ramsey drehte sich um und fand sich Dane gegenüber, der ihn eingehend musterte. »Ist das eine verborgene Seite deines Charakters, Ram, dass du ausdrückliche Befehle missachtest?
Tess blickte zwischen den beiden Männern hin und her. »Oho! Warst du ein unartiger Junge, O’Keefe?«
»Das ist ein Ruf, den ich zu erlangen strebe,
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