Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Titel: Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
wusste, dass ihm sein Opfer dabei in die Arme laufen musste, es war nur eine Frage der Zeit. Und seiner scharfen Augen und seiner Geduld und des Radius seiner Scheinwerfer.
    Aber sie hatte es ihm besonders leicht gemacht. Stellte sich mitten auf die Straße und winkte.
    Alles zu Ende. Verloren. Es ist vorbei.
    Der Brechreiz überwältigte sie fast. In einem instinktiven, nutzlosen Fluchtversuch wankte sie zur Seite, mühte sich ab, wieder in das Dickicht einzutauchen, wie ein Tier, das sich urplötzlich
seinem schlimmsten Feind gegenübersieht. Die Brombeerranken schlugen ihre scharfen Dornen in ihre Arme und in ihr Gesicht, sie weinte vor Schmerz und vor Angst und schaffte es nicht, eine Stelle zu finden, an der sich ihr ein Durchkommen ermöglicht hätte. Die Bäume wären ihre letzte und winzig kleine Chance gewesen, aber der Wald war hier wie eine Mauer, und sie war zu schwach, zu entkräftet. Ihre Beine knickten ein, sie fiel auf die Erde, das Gesicht auf einem weichen Bett aus Moos, und sie wusste, gleich würde sie gepackt werden, hochgerissen, und dann würde er sie töten.
    Sie hörte die Autotür. Es war das Ende.
    Unerwartet sanfte Hände fassten ihre Schultern. Sehr behutsam wurde sie umgedreht. Sie hielt die Augen geschlossen, hob den Arm schützend vor ihr Gesicht.
    »Inga!«, sagte eine Männerstimme tief erstaunt. Es war nicht die Stimme ihres Mannes.
    Sie öffnete die Augen. Die Scheinwerfer des Autos gaben genug Licht. Sie erkannte Maximilians Gesicht.
    Voller Verwunderung und Besorgnis starrte er sie an.
    »Inga«, wiederholte er, »um Gottes willen!«
    Sie wollte etwas sagen. Aber ihre Stimme versagte ihr den Dienst, und alles, was sie herausbrachte, war ein undeutliches Krächzen.
    8
    Es roch durchdringend nach etwas Angebranntem. Das ganze Haus war davon erfüllt. Rebecca hoffte, dass sich nichts Entzündliches in der Nähe der offenbar glühenden Herdplatte befand. Es war fraglich, ob Marius auf ein in Flammen stehendes Haus überhaupt reagieren würde.

    Er saß ihr gegenüber auf dem Fußboden des Schlafzimmers, zu einem Häufchen Elend zusammengesunken. Seine verschwitzten Haare standen in alle Himmelsrichtungen vom Kopf ab. Er starrte vor sich hin.
    »Sie hat mich verlassen. Sie hat mich nie geliebt. Sie sieht den letzten Dreck in mir. Ich bin ein Nichts in ihren Augen.«
    Rebecca wusste, dass sie alles, was sie jetzt sagte, sehr vorsichtig abwägen musste. Im Augenblick war Marius schwach und elend wie ein angeschossenes Tier, aber jeden Moment konnte sich seine Schwäche in Aggressivität wandeln.
    Rebeccas Lage hatte sich verschärft. Und das gerade zu dem Zeitpunkt, da es ihr gelungen war, Marius ein klein wenig zu entspannen.
    Er hatte ihr schreckliche Dinge erzählt. Erniedrigungen und Demütigungen, die ihm von Fred Lenowsky angetan worden waren. Er hatte von seinem Hunger geredet, von seiner Angst. Davon, wie sich Fred an der Furcht des kleinen Jungen geweidet hatte. Wie Greta schweigend zugesehen hatte, wenn er ihn quälte. Und er hatte von seinem Gespräch mit Sabrina Baldini berichtet.
    »Ich habe ihr das alles erzählt. Alles, hörst du, alles , was ich auch dir erzählt habe. Kinderruf – dass ich nicht lache! Eure tollen Broschüren, man soll sich an euch wenden, wenn man Probleme hat, ihr habt ein offenes Ohr, ihr wollt helfen, wo ihr könnt … das war doch nur Show! Eine einzige grandiose Show! Wenn es hart auf hart kam, habt ihr ein Kind hängen lassen. Fred Lenowsky hatte Einfluss, und er war ein angesehener Bürger. Mit so einem legt man sich nicht an. Da hält man schön den Mund. Da hört man einfach nicht hin, was so ein kleiner Rotzjunge aus asozialen Verhältnissen erzählt! «
    Rebecca hatte begonnen, ihn zu verstehen. Seinen Hass,
seine Verbitterung. Und das Seltsamste für sie war: Sie glaubte ihm jedes Wort. Alles, was er über seinen Pflegevater erzählte, löste in ihr Mitleid, Wut und tiefes Erschrecken aus – aber keinen Zweifel. Etwas in seinem Gesicht, in seiner Stimme verriet ihr, dass ihr nichts vorgemacht wurde. Marius mochte krank sein, er mochte ein Psychopath sein, was angesichts der Geschehnisse in seiner Jugend nicht verwunderte, aber er log nicht. Nicht in dieser Angelegenheit. Sie fühlte den echten Schmerz, den die Erinnerungen in ihm wachriefen.
    Er log nicht, aber leider machte ihn das nicht weniger gefährlich. Im Gegenteil.
    Ihr Vorteil war, das wusste sie, dass sie ihm wirklich glaubte. In ihrer Situation hätte sie auch andernfalls so

Weitere Kostenlose Bücher