Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
Hecken und Bäume in wildem Durcheinander. Inga hielt sich so tief im Gestrüpp, wie sie nur konnte. Das Vorankommen war extrem schwierig, oft versperrten ihr dornige Zweige den Weg, und sie musste sich umständlich und unter hohem Zeitverlust in weiten Bögen daran vorbeiquälen. Dabei durfte sie keinesfalls die Richtung verlieren. Kilometerweit erstreckten sich hier Wiesen und Wälder. Wenn sie zu weit von der Straße abkam, konnte es ihr passieren, dass sie den Ort nie erreichte oder am Ende sogar noch im Kreis lief. Immer wieder musste sie versuchen,
das mondbeschienene graue Asphaltband in den Blick zu bekommen, sich dabei aber nicht allzu nah heranzubegeben. Vielleicht stand er gerade ganz dicht am Rand der Wildnis. Vielleicht vermutete er sie zwischen den Büschen.
Ruhig atmen. Nicht keuchen. Ganz ruhig atmen.
Sie tauchte an einer Brombeerhecke vorbei, hatte aber nicht genug aufgepasst, und ein langer, dorniger Zweig riss ihr einen tiefen, schmerzhaften Streifen über das ganze rechte Bein. Sie war immer noch im Nachthemd, und sie hätte im Moment ein Vermögen für eine Jeans gegeben, die ihre Haut geschützt hätte.
Denk darüber nicht nach. Das ist jetzt unwichtig. Es geht um dein Leben. Es geht um Rebeccas Leben.
Es gelang ihr, trotz des Schmerzes nicht aufzuschreien. Aber die Tränen schossen ihr in die Augen, und sie musste die Zähne zusammenbeißen. Sie spürte, wie ihr das Blut über die Knöchel lief. Rigoros drängte sie die Panik zurück, die sich ihrer plötzlich bemächtigen wollte. Sie würde das nicht schaffen. Sie würde in diesem verdammten Gestrüpp hängen bleiben. Sie würde den Ort nicht finden. Marius würde irgendetwas Furchtbares mit Rebecca anstellen, ehe es ihr gelang, Hilfe zu holen …
Stopp! Du wolltest nicht denken. Das kannst du später tun. Jetzt geht es nur darum, vorwärts zu kommen!
Sie erkannte die Straße wieder und schloss für eine Sekunde die Augen vor Erleichterung. Sie hatte sich viel weiter im Abseits gewähnt. Noch immer befand sie sich auf dem richtigen Weg.
Angestrengt spähte sie hinüber. Nach ihrer Berechnung musste sie an Rebeccas Haus knapp vorbei sein. Wenn sie nicht alles täuschte, befand sie sich genau gegenüber von dem verwilderten Garten, in dem sie und Marius ihr Zelt
aufgebaut hatten. Das, so schien es ihr in diesem Moment, war in einer anderen Zeit gewesen. In einem anderen Leben.
Ihre Vorsicht durfte sie noch keinesfalls aufgeben, aber sie fragte sich, ob man das, was sie tat, überhaupt als vorsichtig bezeichnen konnte. Für ihr Gefühl bewegte sie sich mit ungeheurer Lautstärke. Hier an der Straße war das Rauschen des Meeres nicht mehr zu hören, und umso deutlicher klangen das Rascheln der Zweige und ihr keuchender, angsterfüllter Atem.
Weiter, weiter. Instinktiv zog sie sich ein Stück tiefer in die Wildnis zurück. Es war gut zu wissen, wo die Straße verlief, aber keinesfalls durfte sie zu sehr in deren Nähe geraten. Und sie musste aufpassen, dass ihre Bewegungen nicht zu hastig ausfielen. Ein Beobachter – Marius – sollte nichts anderes als einen Vogel oder Hasen hinter dem Schwanken der hohen Gräser vermuten.
Sie kroch, robbte, schob sich weiter. Über sich verschränkte Zweige, dahinter der Nachthimmel. Einmal stob mit schrillen Schreien ein großer Vogel aus dem Dickicht und hob sich in die Luft. Sie hielt den Atem an, ließ Minuten verstreichen, ehe sie sich wieder bewegte. Wie viel Zeit war vergangen? Konnte sie es inzwischen riskieren, die Straße zu benutzen?
Wenn sie so weitermachte wie jetzt, wäre sie nicht vor Ablauf von zwei oder drei Stunden in Le Brusc – unerheblich, was sie selbst betraf, aber eine Tragödie möglicherweise für Rebecca. Nach ihrer vagen Vorstellung musste sie sich einen knappen Kilometer vom Haus ihrer Gastgeberin entfernt befinden. Das dürfte reichen. Wenn Marius bislang nicht aufgetaucht war, würde er es jetzt wohl auch nicht mehr tun. Es ging ihm um Rebecca; vielleicht würde er es nicht riskieren, sie allein und unbewacht zurückzulassen.
Oder er hat meine Flucht tatsächlich noch nicht bemerkt.
Er ist so verstrickt in sein Gespräch mit Rebecca, dass er mich glatt vergisst. In seinem Wahn ist ihm das zuzutrauen.
Sie bewegte sich in Richtung Straße. Es war eine mühsame Etappe, denn nun hatte der Wald begonnen, und dichtes Unterholz sowie wild wuchernde Brombeerranken machten das Vorwärtskommen fast unmöglich. Mehr als einmal hörte Inga, wie der Stoff ihres Nachthemdes riss,
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