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Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Titel: Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Aufstieg war hart, und da sie diese Treppe noch nie gegangen war und sie kein Stück weit kannte, kam sie viel langsamer voran. Zum Teil waren die Stufen so hoch, dass sie sie nur auf allen vieren nehmen konnte.
    Gott gebe, dass ich bis ins Dorf hinunter durchhalte, dachte sie.
    Sollte Marius ihren Weg doch durchschaut haben, hätte es ihm ähnlich gesehen, sie hier oben mit einem kalten Lächeln zu erwarten, und so begann ihr Herz wie rasend zu schlagen, als sie sich zwischen den letzten beiden Felsen hindurch auf die Anhöhe schwang. Wenn er hier stand, war sie verloren. Zumal wohl niemand ihre Schreie hören würde. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Besitzer des Ferienhauses daheim waren, war zu gering.
    Aber niemand erwartete sie. Niemand tauchte aus der Dunkelheit auf, niemand packte mit hartem Griff ihren Arm. Keine Schritte waren zu hören. Unter ihr rauschte das Meer, und irgendwo schrie eine Möwe. Sonst blieb alles still.
    Sie bewegte sich gebückt, denn noch immer hätte man sie von den Felsen auf der anderen Seite sehen können. Sie verfluchte die Helligkeit des Mondes, wusste aber, dass sie ohne ihn den Ab- und Aufstieg über die Klippen nur viel langsamer und schwieriger bewältigt hätte. Von jetzt an aber war er ihr Feind. Wenn Marius versuchte, ihr den Weg zum Dorf abzuschneiden, würde es für sie bei dieser Beleuchtung äußerst schwer werden.
    Ein Stück weiter stellte sie durch einen Blick über die Schulter fest, dass man sie nun von Rebeccas Seite aus nicht
mehr sehen konnte, und so riskierte sie es endlich wieder, sich aufrecht zu bewegen. Sie hatte Seitenstechen, und ihre Lungen schmerzten. Das lange, verkrümmte, verschnürte Sitzen auf dem Wohnzimmerstuhl belastete noch ihren Körper.
    Wenn ich nur einen Schluck Wasser hätte, dachte sie, ich hätte sofort doppelt soviel Kraft.
    Obwohl es auf dem riesigen Grundstück einen Umweg für sie bedeutete, schlug sie den Bogen zum Haus in der winzigen Hoffnung, es könne doch jemand dort sein. Auch dabei war sie auf der Hut; sie bewegte sich nicht quer über das Hochplateau, sondern blieb am Rand, suchte den Schatten vereinzelter Bäume. Er konnte überall sein. Er konnte von allen Seiten her urplötzlich auftauchen.
    Das Haus war größer als das von Rebecca, und es sah ziemlich kitschig aus, hatte hier einen Erker, dort ein Türmchen, und um die zahlreichen kleinen Terrassen herum verliefen weiße Mauern mit Zinnen darauf. Man hatte versucht, eine Art spanisch-maurischen Stil herzustellen, wie er sich vielfach in der Carmargue fand, der jedoch hier in der Provence deplatziert wirkte. Vor allem aber wurde das Haus ganz sicher nicht bewohnt. Die braunen Fensterläden waren fest verschlossen, und in ihren Scharnieren wuchsen Spinnweben. Nirgendwo sickerte ein Lichtstrahl nach draußen. Auf dem kiesbestreuten Vorplatz parkte kein Auto. Die zahlreichen Blumenkübel entlang der Treppe zur Haustür hinauf waren leer. Keine Sommergäste in diesem Jahr. Vielleicht kamen sie erst im September.
    Zu spät für mich jedenfalls.
    Sie hielt kurz inne, versuchte ihren Atem zu beruhigen. Jetzt kam der gefährlichste Teil des Weges, wenn sie wieder zurück und an Rebeccas Haus vorbei das Dorf zu erreichen versuchen musste. Sie durfte nicht laut keuchend durch die
Büsche robben; jedes Geräusch konnte sie verraten. Einen Moment lang war sie in Versuchung, ihren Plan umzuwerfen und die schmale Straße in die andere Richtung zu nehmen. Sie befanden sich hier schon recht weit draußen, und Inga kannte sich nicht aus, meinte jedoch, dass es weiter oben immer wieder das eine oder andere Haus gab. Es bestand die Hoffnung, dass dort Menschen waren, aber genauso gut konnte es passieren, dass sie endlos lief und niemanden fand. Sie würde ihre letzten Kräfte verschleißen und sich am Ende noch in den Wäldern des Cap Sicié verlaufen, in die hinein die Straße mündete.
    Also doch Richtung Le Brusc.
    An Marius vorbei.
    Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er noch nichts bemerkt haben sollte, und voller Angst fragte sie sich auch, was dieser Umstand für Rebecca bedeuten würde. Traf sie jetzt seine unberechenbare Wut? Musste sie Ingas Flucht ausbaden, und wenn ja – auf welche Weise? Schon Rebeccas wegen war es wichtig, dass sie jetzt so schnell wie möglich Hilfe holte. Die Entscheidung für Le Brusc war damit endgültig gefallen.
    Die Wildnis gegenüber von Rebeccas Haus erwies sich nun als Ingas wichtigster Verbündeter. Hier wucherte das Gras hoch, wuchsen Büsche,

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