Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
Marius Hagenau in einem Haus einige hundert Meter vor ihr aufhielt, eine Frau in seiner Gewalt hatte, aber vielleicht schon von einem soeben aufgetauchten deutschen Arzt überwältigt worden war. Der sich aber wiederum plötzlich nicht mehr blicken ließ, weshalb sie fürchtete …
Es würde endlos dauern, bis sich auf diese Weise etwas in Bewegung setzte. Entschlossen löste sie die Zentralverriegelung und stieß die Autotür auf. Das Handy steckte sie unter ihr Nachthemd in den Gummibund ihrer Unterhose; vielleicht konnte sie es noch brauchen.
Die ersten Schritte tat sie auf Beinen, die sich wie Wackelpudding anfühlten. Für einen Moment wurde es Inga sogar schwarz vor den Augen, als ihr Kreislauf gegen das hastige Aufstehen rebellierte. Sie blieb stehen und atmete tief durch. Es wurde besser. Sie konnte wieder sehen, und auch ihre Beine wurden langsam stabiler.
Das Auto war wie eine Schutzhülle gewesen, ein winziges Stück Sicherheit inmitten von Chaos und Gewalt und unfassbaren Dingen, die sich in den vergangenen achtundvierzig Stunden ereignet hatten. Die Angst brach nun fast unkontrolliert über sie herein, sie musste noch einmal stehen bleiben, noch einmal tief durchatmen. Schweiß brach ihr aus allen Poren. Sie war versucht, sich in das Auto zurückzuflüchten, sich einzuigeln, auf den Morgen zu warten, darauf, dass andere Menschen vorbeikamen … Aber dann konnte es zu spät sein. Für Rebecca. Vielleicht auch für Maximilian.
Sie biss die Zähne zusammen und ging weiter.
Freitag, 30. Juli
1
Das Haus lag so dunkel und schweigend, als sei es verlassen. Schwarze Fenster, nirgends ein Lichtschein. Nichts bewegte sich. Nur die Bäume entlang des Zauns im Vorgarten raschelten leise im Nachtwind.
Inga näherte sich von der Vorderseite. Der umständliche Weg über Klippen und Strand hätte ihre Lage auch nicht verbessert, er hätte sie nur Zeit gekostet und ihr Kräfte abverlangt, über die sie nicht mehr verfügte.
Es ist ja auch gleich, von welcher Richtung aus ich in mein Verderben laufe, dachte sie. Sie hätte gern nach Maximilian oder Rebecca gerufen, wagte es aber nicht, solange sie keine Ahnung hatte, was geschehen war. Sie nutzte den Schutz der Bäume, um das Haus zu erreichen. Als sie mit den Händen die dicken, steinernen Mauern berührte, merkte sie erst, dass sie auf den Metern durch den Garten nicht geatmet hatte.
Direkt über ihr befand sich das eingeschlagene Fenster der Toilette. Marius hatte es wieder geschlossen, aber es sollte kein Problem sein, hineinzugreifen und es zu öffnen. Dennoch wollte sie es zuerst bei der Haustür versuchen, die ein paar Schritte weiter lag; sollte sie unverschlossen sein, bot sie jedenfalls die Möglichkeit zu einem leiseren Eintreten.
Die Klinke ließ sich hinunterdrücken, aber die Tür gab nicht nach. Sollte das bedeuten, dass Marius ihr Verschwinden noch immer nicht bemerkt hatte? Denn sonst wäre er
doch sicher hier vorn herausgestürmt und hätte bei seiner Rückkehr nicht wieder sorgfältig abgeschlossen. Möglich, aber es konnte sich auch ganz anders verhalten haben. Er war gleich durch die Terrassentür hinausgelaufen, hatte nach ihr gesucht, und war dann dort auch wieder hineingegangen.
Müßig, darüber nachzudenken. Sie hatte einfach keine Ahnung. Es brachte sie nicht weiter, sich ständig Szenarien auszudenken, um sich innerlich auf irgendetwas einzustellen. Denn sie stocherte im Nebel, und jedes Bild, das sie entwarf, musste sie sogleich wieder beiseite legen.
Da sie eine instinktive Angst davor hatte, das Wohnzimmer zu betreten – was wusste sie schon, wer sich dort vielleicht aufhielt –, entschied sie sich nun doch für den Weg durch das Toilettenfenster. Es bereitete ihr keine Probleme, das hoch gelegene Fenster zu öffnen, sie war zum Glück groß genug. Als wesentlich schwieriger erwies es sich, die Kraft zu finden, um sich mit einem Klimmzug auf das Fensterbrett hochzustemmen. Sie sah sich um, ob irgendetwas herumstand, das sie als Tritt benutzen konnte, aber da war nichts, und es wäre zu gefährlich gewesen, lange herumzusuchen. Also musste es so gehen. Wäre da nur nicht das Gefühl gewesen, dass sich alle ihre Muskeln in geschmolzene Butter aufgelöst hätten.
Beim vierten Anlauf war sie oben und schaffte es, ihr rechtes Bein nach innen zu schwingen, so dass sie nun rittlings im Fensterrahmen saß. Ihr Herz raste von der Anstrengung, sie war schon wieder klatschnass, und ihre Beine zitterten so, dass sie zehn Minuten
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