Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
sich die Gelegenheit ergeben, sie würde Rebecca dies sagen. Auf die Gefahr hin, brüsk zurückgewiesen zu werden. Aber wenigstens einmal sollte Rebecca hören, dass sie dabei war, eine große Chance zu verspielen.
Sollte sich die Gelegenheit ergeben …
Es waren auch andere Bilder, die vor Ingas Augen auftauchten. Wenn es Maximilian nicht geglückt war, Marius zu überraschen, dann mochten die Szenen, die jetzt im Haus stattfanden, ganz anders aussehen. Wer sagte ihr, dass Maximilian der Stärkere war? Marius war zwanzig Jahre jünger, von der Kraft seines Irrsinns, seiner jahrelang gestauten Qualen getragen. Er mochte als Sieger aus einem Kampf hervorgehen, und das wäre das Ende. Für Rebecca. Vielleicht auch für sie, Inga.
Maximilian hatte den Autoschlüssel nicht stecken lassen. Warum eigentlich nicht? Gewohnheit vielleicht. Auf jeden Fall kam sie hier nicht weg. Nur zu Fuß, und dazu fehlte ihr die Kraft.
Marius ist völlig übermüdet. Er hat seit Ewigkeiten nicht geschlafen. Nicht gegessen. Wahrscheinlich auch kaum etwas getrunken. Trotz der langen Autofahrt ist Maximilian viel ausgeruhter. Und damit stärker. Er wird ihn überwältigen.
Sie versuchte sich diese Gedanken immer wieder zu suggerieren. Was aber an ihren Ängsten und Befürchtungen kaum etwas änderte. Und hätte Maximilian nicht längst zurück sein müssen, wenn es ihm gelungen wäre, Rebecca zu befreien?
Es war jetzt zwanzig vor zwölf. Das alles dauerte zu lang.
Wirklich? Schließlich hatte sie nicht den geringsten Maßstab für Fälle dieser Art. Wie lange dauerte es im Allgemeinen, einen rasenden Psychopathen – denn vielleicht war ihr Mann das: ein Psychopath – unschädlich zu machen und einen Menschen aus seiner Gewalt zu befreien?
Es konnte nicht lange dauern. Es funktionierte entweder, oder es funktionierte nicht. Das musste sich bereits nach wenigen Sekunden entscheiden.
Aber was, wenn Maximilian Marius gar nicht antraf? Wenn dieser auf der Suche nach seiner entflohenen Frau irgendwo in der Nacht herumirrte?
Aber dann könnte er Rebecca ohne Schwierigkeiten befreien. Mit ihr zum Auto laufen, und sie könnten sich endlich auf und davon machen, die Polizei verständigen, den Albtraum beenden …
Warum kamen sie nicht? Es war bald Mitternacht. Irgendetwas stimmte da nicht. Wenn ich nur das Auto starten könnte, dachte Inga, dann könnte ich wenigstens Hilfe holen.
Es würde ihr nichts übrig bleiben, als auszusteigen und selbst noch einmal zum Haus zu laufen. Nachzusehen, ob Maximilian in Bedrängnis war. Zwar hielt sie es für mehr als unwahrscheinlich, dass ausgerechnet sie ihm würde helfen können, und abgesehen davon wurde ihr geradezu schlecht vor Angst bei der Vorstellung, ihrem Peiniger Marius noch einmal gegenüberzustehen, aber die Alternative war, weiterhin untätig in diesem Auto herumzusitzen, und sie fürchtete, dass sie dies innerhalb der nächsten Viertelstunde in einen Nervenzusammenbruch treiben würde.
Ich muss jetzt wissen, was geschieht.
Fraglich blieb natürlich auch, ob sie es in ihrem geschwächten Zustand schaffen würde, Rebeccas Haus zu erreichen. Sie griff noch einmal nach der Wasserflasche, die Maximilian ihr vorhin gegeben hatte, aber sie hatte sie tatsächlich vollständig leer getrunken. Immer noch war sie entsetzlich durstig. Im Dunkeln tastete sie auf dem Rücksitz herum. Vielleicht hatte er noch etwas zu trinken dort. Oder sogar etwas Essbares. Ihre Hand fand einen kleinen, harten Gegenstand. Ein Handy.
Sie holte es nach vorne und starrte überrascht auf das Display, dessen Beleuchtung sie mit ihrer Berührung angeschaltet hatte. Das Handy hatte vollen Empfang und war vollständig geladen. Wieso hatte Maximilian vorhin behauptet, das Gerät sei leer und man könne nicht telefonieren? Vielleicht hatte er sich einfach geirrt. Oder …
Oder er wollte nicht, dass die Polizei kommt, dachte Inga, er will Rebecca befreien, er allein. Er will der Ritter sein, der den Drachen tötet. Vielleicht sieht er darin seine Chance, ihr Herz zu gewinnen. Und missachtet das Risiko. Männer können sich so schrecklich idiotisch aufführen.
Es half ihr nicht viel, über ein Telefon zu verfügen, da sie die Notrufnummer der französischen Polizei nicht kannte. Kurz überlegte sie, ob es Sinn machte, die deutsche Polizei anzurufen. Sie würde wohl bei irgendeiner Zentrale landen, dann erklären, dass sie sich im Wald unweit des Cap Sicié in Südfrankreich befand, dass sich der in Deutschland gesuchte
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