Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
Weise umgebracht. Es war unvorstellbar. Inga konnte spüren, dass sie über dieser Information in eine Art Schock geraten war, dass das ungeheuerliche Ausmaß dieser Nachricht noch gar nicht wirklich von ihr begriffen wurde. Irgendwann würde sie über all dem, was in den letzten zwei Tagen geschehen war, zusammenbrechen. Dann, wenn der Albtraum endlich vorüber wäre.
Aber war er das nicht schon? Marius stellte keine Gefahr mehr dar. Rebecca war frei. Warum wurde sie, Inga, das Gefühl einer Bedrohung nicht los?
Sie humpelte die Treppe hinunter. Sie konnte sehen, dass ihr Verband am Fuß blutgetränkt war. Wahrscheinlich hinterließ sie rote Abdrücke auf ihrem Weg nach unten. Oben schwamm Marius in seinem Blut. Am Schluss würde dieses Haus einem Schlachthof ähneln.
Sie schaltete auch im unteren Flur das Licht an. Jetzt erst fiel ihr auf, wie durchdringend es hier nach Angebranntem roch. Sie warf einen Blick in die Küche. Auf dem Herd, den irgendjemand inzwischen ausgeschaltet hatte, stand ein Kochtopf mit einer undefinierbaren, schwarz verkohlten Masse darin. Sie erinnerte sich, dass Marius gerade zu kochen begonnen hatte, als sie geflüchtet war.
»Rebecca!«, rief sie. »Ich bin es, Inga! Maximilian! Wo seid ihr?«
Sie hatte das Wohnzimmer erreicht, öffnete die Tür.
Ihre Augen mussten sich an das Dämmerlicht gewöhnen. Die Fensterläden waren geschlossen, kein Mondlicht sickerte ein, aber es brannten ein paar Kerzen. Auf dem Stuhl, auf dem Inga so viele Stunden gefesselt, elend und gequält gesessen hatte, saß nun Rebecca. Sie war nicht gefesselt, aber sie sah entsetzlich aus, was sogar in der seltsam schummrigen Beleuchtung zu erkennen war. Strähnige, wirre Haare, kreidebleich, tiefe Ringe unter den Augen. Ihr gegenüber, auf einem anderen Stuhl, saß Maximilian.
Das Bild drang langsam und schwerfällig in Ingas Bewusstsein, und sie dachte: Wie seltsam. Wieso sitzen die hier bei Kerzenlicht herum?
Im selben Moment, da sie dies dachte, öffnete Rebecca den Mund. Sie schrie so plötzlich, dass Inga entsetzt zusammenfuhr: »Verschwinde, Inga! Lauf weg! Lauf, so schnell du kannst! Er ist wahnsinnig! Lauf doch weg!«
Sie begriff nicht. Marius konnte keiner Fliege mehr etwas zuleide tun. Wusste Rebecca das noch nicht?
Sie wollte ihr antworten, wollte ihr erklären, dass sie keine Angst mehr zu haben brauchte. Da fiel ihr Blick auf Maximilian. Er hatte eine Pistole in der Hand, und er grinste sie an – krank und gemein.
2
»Wie heißt der Ort?«, fragte Kronborg. »Können Sie mir das bitte buchstabieren?«
Er war eigentlich noch gar nicht richtig wach. Es war kurz
nach sieben am Morgen, und er befand sich schon wieder in seinem Büro. Außer ihm war noch kein Mensch in der Abteilung. Es roch nach den Desinfektionsmitteln der Putzkolonne vom Vorabend, und natürlich gab es noch kein Zimmer, in dem jemand Kaffee durch seine Maschine laufen ließ. Kronborg, der nicht gefrühstückt hatte, weil er die Einsamkeit am Frühstückstisch noch weniger ertrug als die beim Abendessen, wusste, dass er dringend einen Kaffee brauchte, um klar denken zu können.
Aber egal. Er hatte die aufgeregte Sabrina Baldini am Telefon und musste einfach auf irgendeine Weise funktionieren.
»Le Brusc«, wiederholte er, »Gemeinde Six Fours. Da sind Sie sicher?«
Sabrina klang hektisch. »Ganz sicher. Ich wusste genau, dass noch irgendwo ein Brief sein musste, den mir Rebecca vor ein paar Jahren aus dem Urlaub geschrieben hatte. Da stand auch der Absender. Ich habe die halbe Nacht gesucht … Rebecca wird so heftig bedroht in den Briefen, und Sie hatten ja auch gefragt …. Ich meine, man muss sie warnen, nicht wahr? Ich bin jetzt richtig erleichtert, dass ich die Adresse gefunden habe. Und dass ich Sie so früh erreichen konnte! Um diese Uhrzeit hatte ich gar nicht damit gerechnet! «
»Ich bin ein Frühaufsteher«, behauptete Kronborg. In gewisser Weise stimmte es auch, aber früher war das anders gewesen, und die Gründe für seine veränderten Lebensgewohnheiten waren alles andere als schön. »Also dort, in Le Brusc, hatte sie ihr Ferienhaus?«
»Ja. Zusammen mit ihrem Mann. Ich meine, die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich dorthin zurückgezogen hat, ist recht groß, weil ihr Mann den Ort so geliebt hat. Natürlich kann man es nicht genau wissen, aber …«
»Aber wir können versuchen, sie dort aufzustöbern«, sagte
Kronborg. »Das war ein sehr wichtiger Hinweis, Frau Baldini. «
»Ich bin froh, wenn ich
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