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Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Titel: Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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verharren musste, ehe sie an den Abstieg denken konnte. Jedenfalls glaubte sie, es seien zehn Minuten gewesen. Im Grunde hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren und meinte nur, dass alles, was sie tat, atemberaubend langsam geschah.
    Endlich rutschte sie auf der Innenseite hinunter, kam mit den Füßen auf der Toilette zu stehen und stieg von dort auf
den Fußboden. Zu spät fiel ihr ein, dass dort noch alles voller Glasscherben lag. Erst ein scharfer Schmerz in ihrem rechten Fuß brachte ihr diesen Umstand ins Gedächtnis. Sie jammerte leise auf und fühlte warmes Blut zwischen ihren Zehen hindurchquellen. Als ob ihre Lage nicht auch so schon schlimm genug gewesen wäre, hatte sie sich nun auch noch eine erhebliche Verletzung zugezogen.
    Sie sank auf die Toilette und wickelte sich aus dem Toilettenpapier einen dicken Verband um den Fuß, wozu sie fast die ganze Rolle verbrauchte. Vermutlich würde dieses Provisorium nicht lange halten, aber für den Moment blieb ihr keine andere Möglichkeit.
    Sie humpelte hinaus in den Flur. Auch hier brannte kein Licht, aber durch die Küche fiel Mondschein herein, und sie konnte in Umrissen die Möbel sehen und die Treppe, die nach oben führte. Es herrschte völlige Stille.
    »Maximilian?«, wisperte sie, und dann: »Rebecca?«
    Aber natürlich antwortete niemand; sie hatte die Namen beinahe lautlos gehaucht, und selbst jemand, der sich in der Nähe aufgehalten hätte, hätte sie nicht hören können.
    So leise sie konnte, schlich sie die Treppe hinauf, wobei sie den schneidenden Schmerz in ihrem Fuß zu ignorieren versuchte. Ebenso den Umstand, dass sich der dürftige Verband aus Klopapier schon nass und klebrig anfühlte und offenbar bereits restlos durchweicht war. Vielleicht würde sie in dieser Nacht hier in diesem Haus verbluten, aber sie dachte, dass das wohl keinerlei Rolle mehr spielte.
    Auch oben brannte nirgends Licht, und sie fragte sich, wer es wohl überall im Haus gelöscht hatte. Marius? Maximilian? Und warum?
    Sie spähte ins Badezimmer, dann in das kleine Arbeitszimmer. Weiß glänzte der Computer im Mondlicht.
    »Maximilian?«, flüsterte sie erneut.

    Am Ende des Ganges lag Rebeccas Schlafzimmer, gleich neben der Treppe, die zum Gästezimmer unter dem Dach führte. In ihrem Schlafzimmer war Rebecca zwei Nächte zuvor von Marius überwältigt worden. Hier hatten sich die Hauptstücke des Dramas abgespielt. Hier konnte absolut Entsetzliches auf sie warten.
    Inga schob langsam und voller Angst die Tür auf.
    Auf dem Fußboden mitten im Zimmer lag eine Gestalt. Sie hörte ein leises, keuchendes Atmen; es klang, als ringe jemand um jeden Atemzug.
    »Rebecca?«
    Es kam keine Antwort. Nichts war zu hören als das stoßweise Kämpfen um Atem.
    Sie huschte ins Zimmer, kauerte neben der Gestalt nieder. Im Schein des Mondes erkannte sie Marius’ kalkweißes Gesicht, das von Schweiß überströmt war. Sein ungewaschenes, stinkendes T-Shirt war nass und roch durchdringend nach Blut. Marius lag hier im Zimmer, schwer verletzt, und verblutete. Sein Atem hörte sich an, als ringe er mit dem Tod.
    »Marius«, flüsterte sie. Sie hob seinen Kopf ein wenig an, suchte nach einer Regung in seinem Gesicht. Aber er war wohl bewusstlos, er reagierte nicht auf sie. Sehr vorsichtig legte sie seinen Kopf wieder auf den Boden, nahm seinen Arm hoch und fühlte seinen Puls. Er war schwach und langsam.
    Trotz allem, was er getan hatte: Er war ihr Mann, sie hatte ihn geliebt, hatte mit ihm gelebt. Sie konnte ihn nicht hier liegen und sterben lassen.
    Wo, zum Teufel, waren Maximilian und Rebecca? Offenbar war Maximilians Vorhaben geglückt, er hatte Marius außer Gefecht gesetzt. Auf welche Weise eigentlich? Hatte er ein Messer gehabt? Eine so stark blutende Wunde konnte man nur mit Hilfe einer Waffe herbeiführen. Oder einer Pistole? Aber dann hätte sie einen Schuss hören müssen. Außerdem
hätte er es ihr sicher gesagt, wenn er bewaffnet gewesen wäre. Oder auch nicht. Entnervt und ausgelaugt, wie sie gewesen war, hätte er vielleicht vorsichtshalber überhaupt nichts gesagt.
    Draußen im Gang schaltete sie das Licht ein. Sofort sah alles um sie herum normaler, vertrauenerweckender aus. Der weiße hölzerne Schrank, der gewebte Läufer, das Bild an der Wand, das ein Lavendelfeld zeigte … alles war vertraut und friedlich. Und doch lag dort hinten in dem Zimmer ihr Mann, schwer verletzt, um Atem ringend, und er hatte möglicherweise zwei alte Leute, seine Pflegeeltern, auf grausame

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