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Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Titel: Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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dass man überhaupt nichts mehr realisierte, wenn man, geschwächt und dem Verdursten nahe, nachts durch einen Wald rannte, auf der Flucht vor einem unberechenbaren und gefährlichen Feind?
    Inga wusste nur, dass sie einen furchtbaren Fehler gemacht
hatte. Maximilian war ihr Retter in der Not gewesen, und nichts von dem, was er sagte, hatte sie stutzig werden lassen. Er hatte Marius’ Bild in der Zeitung entdeckt, hatte die Geschichte dazu gelesen und erfahren, dass die deutsche Polizei fieberhaft nach ihm fahndete. Wäre es da nicht normal gewesen, bei der Polizei anzurufen und zu sagen, was man wusste? Anstatt sich ins Auto zu setzen und auf eigene Faust nach Südfrankreich zu fahren, was eine Verzögerung von zwölf Stunden bedeutete. Zwölf Stunden, in denen viel geschehen konnte.
    Aber natürlich war es das richtige Verhalten, wenn man nie vorgehabt hatte, sich an die Polizei zu wenden.
    Und dann sein Handy. Spätestens da hätten alle Alarmglocken bei ihr schrillen müssen. Wie konnte er behaupten, der Akku sei leer, wenn er voll geladen war? Darüber konnte es kein Missverständnis geben. Und wie war es überhaupt möglich, dass der Akku des Geräts nach zwölf Stunden Fahrt, in denen es offenbar weder im Auto angeschlossen noch ausgeschaltet gewesen war, nichts an Ladung verloren hatte? Dieser Umstand ließ darauf schließen, dass Maximilian keineswegs eine so weite Reise hinter sich hatte. Vielleicht war er nie fort gewesen. Vielleicht hatte er sich die ganze Zeit über in der Gegend aufgehalten.
    Das Handy war im Moment Ingas einziger kleiner Strohhalm. Es klemmte noch immer unter ihrem Nachthemd, das Metall auf ihrer nackten Haut war inzwischen ganz warm geworden. Solange Maximilian keine Ausbuchtung bemerkte oder das Gerät auf den Boden rutschte – oder im schlimmsten Fall zu klingeln begann –, wusste er nicht, dass sie es hatte. Und damit möglicherweise über einen Kontakt zur Außenwelt verfügen konnte. Es war eine minimale Chance, aber sie hielt sich innerlich daran fest, um nicht in Panik zu geraten.

    Allerdings zeichnete sich für den Moment keine Gelegenheit ab, irgendjemanden anrufen zu können. Sie und Rebecca saßen seit Stunden in dem abgedunkelten Zimmer, in dem nur der Kerzenschein ein unheimlich flackerndes Licht verbreitete, in Schach gehalten von Maximilians Pistole, mit der dieser in aufreizend lässiger Weise herumspielte. Rebecca kauerte auf demselben Stuhl wie zuvor. Inga war von Maximilian zu einem Ohrensessel in der Ecke des Zimmers dirigiert worden. Sie saß dort sehr verkrampft, bemüht, sich nicht zu bewegen, um das Handy nicht verrutschen zu lassen. Maximilian, der auf und ab ging, sich gelegentlich setzte, dann wieder aufstand, war in der Hauptsache auf Rebecca konzentriert; es hatte den Anschein, als interessiere ihn Inga nicht wirklich. Allerdings musste sie auf der Hut bleiben. Unvermittelt richtete er zwischendurch auch das Wort an sie, und er schaute auch immer wieder zu ihr herüber. Es war ausgeschlossen, dass sie irgendetwas hätte tun können, was er nicht bemerkte.
    Er hatte ihr fast beiläufig erklärt, er habe auf Marius geschossen – ein Kissen hatte verhindert, dass man in der Umgebung etwas hatte hören können –, und wahrscheinlich sei er schon tot.
    »Oder auf dem besten Weg dorthin.« Er schaute Inga an. »Sorry. Musste sein.«
    Sie hatte versucht zu verstehen, was sich hinter alldem verbarg. »Marius … ist Marius überhaupt gefährlich?«
    Maximilian hatte gelacht. Ein kaltes und böses Lachen. »Marius? Der ist ein harmloses kleines Stück Hundescheiße. Ziemlich neurotisch, weil er eine recht hässliche Vergangenheit hat. Aber ansonsten … der tut keiner Fliege etwas zuleide! « Dann hatte er wieder gelacht. »Obwohl mich dein blaues Auge schon beeindruckt. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut. «

    Sie dachte an Marius auf dem Schiff. Als er sie grob in die Kajüte geschubst hatte. Später, hier im Wohnzimmer, als er sie ohrfeigte. Unschön, furchtbar. Aber wahrscheinlich das Äußerste, wozu er unter einer bestimmten nervlichen Anspannung fähig war. Er war kein Killer. Er hätte weder ihr noch Rebecca jemals ernsthaft etwas zuleide getan. Er hätte sie vor Maximilian beschützt. Nun lag er dort oben in Rebeccas Schlafzimmer auf dem Fußboden und verlor literweise Blut, und wenn nicht sehr bald Hilfe käme, wäre er tot, ehe der Morgen anbrach.
    Und wir auch, dachte sie voller Gewissheit, wir sind auch tot, ehe es wieder Abend wird.
    4
    Kronborg

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