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Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Titel: Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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sie sie als kränkend. Womöglich waren sie es gar nicht.
    Das Rad im Kopf war wieder angesprungen. Ihr Grübeln war in Gang gesetzt. Sie wusste, sie würde nun über Stunden nicht mehr abspringen können. Das Gedankenkarussell war so langsam und unauffällig angelaufen, dass sie es nicht rechtzeitig bemerkt hatte. Manchmal gab es ganz zu Beginn noch für einen kurzen Moment die Chance, ihm zu entkommen,
abzuspringen, wenn es sich noch ganz sacht, fast unmerklich drehte. Allerdings erwischte sie diesen Augenblick selten. Heute war er ihr völlig entgangen.
    Sie stand dem Restaurant gegenüber, nur noch durch eine Straße getrennt, und wusste, dass sie nicht hineingehen konnte. Sowieso würde sie keinen Bissen herunterbringen, aber zudem fand sie den Mut nicht mehr, den vertrauten Raum wiederzusehen und all die Bilder vor Augen zu haben, die sie mit einer nie wiederkehrenden Zeit verband. Am Ende gab es noch einen Kellner von früher, der sie erkannte und fragte, weshalb sie so lange nicht mehr gekommen war, und sie war nicht ganz sicher, ob ihr dann nicht sogar die Tränen kommen würden. Was natürlich keinesfalls geschehen durfte.
    Sie wollte gerade auf dem Absatz umkehren, da sah sie Wolf.
    Er kam von der anderen Seite her die Straße entlanggeschlendert, unverkennbar mit seiner Kopfhaltung, die immer etwas Hochnäsiges hatte, und mit seinem hellgrauen Anzug, der ihn als seriösen Banker auswies. Das Sonnenlicht ließ erste vereinzelte graue Strähnen in seinen dunkelbraunen Haaren aufblitzen, was sehr interessant und attraktiv aussah. Überhaupt umgab ihn eine Ausstrahlung, die bewirkte, dass sich Karen sofort unscheinbar und unansehnlich fühlte, klein und unbedeutend und gänzlich ungeeignet, an der Seite eines solchen Mannes erscheinen zu können. Es lag nicht nur an Wolfs gutem Aussehen. Es lag vor allem an seiner Gelassenheit, mit der er sich bewegte, an seinem Selbstvertrauen, das er wie einen Schutzschild vor sich hertrug. An der ganzen Selbstverständlichkeit, mit der er die Straße entlangkam, ohne Sorgen, ohne Ängste, ohne sich mit anderen zu vergleichen und sich zu fragen, ob sie besser waren als er, schöner, klüger, gebildeter, interessanter.

    Genau genommen tat, dachte und fühlte er einfach all das nicht, was Karen ständig tat, dachte, fühlte. Welten trennten sie. Den erfolgreichen Geschäftsmann und die verhuschte, graue Maus.
    Und eine verhuschte graue Maus blieb auch mit neuen Klamotten eine verhuschte graue Maus, das begriff Karen in diesem Moment. Nichts hatte sich geändert. Sie hatte bloß zu viel Geld ausgegeben und sich damit neuen Ärger eingehandelt.
    Neben Wolf ging eine junge Frau, sie lachte gerade laut auf, warf ihre langen Haare zurück und schob sich mit einer sehr sinnlichen Bewegung ihre Sonnenbrille auf den Kopf.
    Die Wirkung des Champagners verflog mit einem Schlag. Nüchtern und fast emotionslos – betäubt?, fragte sie sich – betrachtete Karen die Szene.
    Die Frau trug einen hellbeigen Hosenanzug, darunter ein weißes T-Shirt, sie war keineswegs aufreizend angezogen, eher fast zu konservativ für ihr noch sehr jugendliches Alter, so dass der Gedanke nahe lag, dass sie ebenfalls in einer Bank arbeitete. Wahrscheinlich in derselben Bank wie Wolf. Eine Kollegin. Wolf ging in seiner Mittagspause mit einer Kollegin zum Essen. Und zwar zu dem Italiener, bei dem er sich früher mit seiner Frau getroffen hatte. Es war ganz normal. Nichts daran musste sie beunruhigen.
    Sollte Wolf mutterseelenallein zu Mittag essen? Sollte er das einzig gute Restaurant in erreichbarer Nähe der Bank meiden, nur weil er vor endlosen Zeiten dort mit seiner Frau Händchen gehalten und geknutscht hatte?
    Die beiden hatten den Eingang erreicht, Wolf hielt seiner Begleiterin die Tür auf und folgte ihr dann in den Innenraum. Soweit Karen dies verschwommen durch die Fenster erkennen konnte, wurden die beiden eilfertig und freundlich von dem Ober begrüßt.

    Man kennt sie, sie haben ihren Tisch, so wie wir damals, dachte Karen, man weiß schon, was sie trinken, und wenn sie am Ende nur ein Dessert bestellen, bringt man gleich zwei Löffel, damit sie gemeinsam …
    Sie atmete tief durch und verbot diesem Gedanken, Raum in ihr zu gewinnen. Wolf und seine Kollegin löffelten nicht von einem gemeinsamen Tellerchen. Sie wirkten nicht wie ein Liebespaar. Sie wirkten wie gute Freunde, sehr gute Freunde, die ihre knapp bemessene Freizeit miteinander verbrachten. Überdies zeigte sich Wolf gern mit dieser

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