Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Titel: Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
Geschäft zu Geschäft laufen müssen. Es war Viertel nach zwölf, und für gewöhnlich würde sie jetzt anfangen, das Mittagessen für die Kinder vorzubereiten, aber diese nahmen an einer Sportveranstaltung ihrer Schule teil, die bis in den späten Nachmittag dauern würde. Ein unerwarteter Freiraum also, der sich Karen bot, und da sie sich an diesem Tag besser fühlte
als sonst, war ihr plötzlich diese aberwitzige Idee gekommen. Sie hatte seit ewigen Zeiten nichts mehr für sich gekauft, hatte das auch immer für überflüssig gehalten. Für das Leben ausschließlich in ihren vier Wänden brauchte sie keine schicken Klamotten, schon gar nicht für die Haus- und Gartenarbeit und die Spaziergänge mit Kenzo. Die Frauenzeitschriften rieten zwar immer zu einer neuen Garderobe, wenn man sich besser fühlen wollte, oder gleich zu einer Generalüberholung bei Friseur, Kosmetikerin und Wellness-Farm, aber Karen hatte darauf nie etwas gegeben. Aber heute Morgen hatte sie sich zum ersten Mal seit langem wieder einmal aufmerksam in dem hohen Schlafzimmerspiegel gemustert, und dabei war ihr aufgefallen, dass sie stark abgenommen hatte. Die Rippenbögen stachen deutlich hervor, die Hüftknochen zeichneten sich spitz ab, der Bauch war eingesunken, die Oberschenkel ziemlich schlaff. Sie stieg auf die Waage und stieß einen Laut des Erstaunens aus: Sie wog acht Kilo weniger als im Januar oder Februar, als sie sich zuletzt gewogen hatte.
    Sie hatte von dem starken Gewichtsverlust nichts bemerkt, aber sie erinnerte sich, dass sie an vielen Tagen, an denen es ihr schlecht ging, Traurigkeit und Niedergeschlagenheit sie fest im Griff hatten, nichts hatte essen können. In der letzten Zeit hatte sie sich zudem häufig übergeben, vor Unruhe und Anspannung, und weil sie sich immer so viele Sorgen machte. Sorgen vor allem um ihre Ehe.
    Und so hatte sie plötzlich gedacht: Ich könnte einfach einmal etwas für meine Ehe tun, anstatt mich ständig um sie zu sorgen. Ich habe wirklich eine schöne Figur, aber in den Säcken, die ich immer an mich hänge, sieht man sie überhaupt nicht. Wolf sieht sie nicht. Wenn er heute Abend nach Hause kommt, könnte er mich einmal ganz neu erleben.
    Der Gedanke hatte sie beflügelt, und mit sehr viel mehr
Schwung und Energie als sonst erledigte sie ihre Hausarbeit, so dass sie tatsächlich mittags mit allem fertig war. Bevor sie losging, ließ sie Kenzo noch einmal in den Garten. Wie üblich schoss er sofort zum Zaun und bellte das Nachbarhaus an, drehte dann aber um, hob sein Bein an einem Rosenstrauch und trabte ins Haus zurück.
    »Braver Hund«, sagte Karen, »du wirst jetzt schön allein bleiben, ja? Ich komme bald wieder.«
    Er sah sie aus freundlichen Augen aufmerksam an. Sie konnte nicht umhin, hinaus und zu dem von ihm erneut angebellten Haus zu blicken. Verschlossene Rollläden nach wie vor. Kein Lebenszeichen.
    Ich hatte beschlossen, darüber nicht mehr nachzudenken!
    Dennoch wurde sie diesem Vorsatz sofort wieder untreu, als sie zu ihrer Garage ging und ihr dabei fast zwangsläufig der Briefkasten der Nachbarn ins Auge fiel. Sie hatte alle Post, die aus der schmalen Messingklappe herausragte, an sich genommen und vorläufig ganz oben auf einem Schrank in ihrer Küche gestapelt. Sie hatte Wolf nichts davon erzählt, denn sie mochte ihm nicht schon wieder einen Anlass für ein paar wohlformulierte zynische Kommentare geben, aber sie fand, dass sich eine solche, wenn auch nicht abgesprochene, Hilfsbereitschaft unter Nachbarn gehörte.
    Auch jetzt schauten wieder zwei Briefe, eine Zeitung und ein Modekatalog aus dem Briefkasten heraus, und Karen nahm sie ohne zu zögern an sich. Sie klingelte noch einmal, obwohl sie genau wusste, dass sich die Tür des stummen, verdunkelten Hauses nicht öffnen würde.
    Wolf hat wirklich Recht, ich mache mich viel zu verrückt deswegen, dachte sie.
    In der Stadt verlief zunächst alles perfekt. Sie fand sofort einen Parkplatz, und als sie die Boutique betrat, in der sie früher öfter eingekauft hatte – damals, als alles anders war,
als sie noch in dem alten Haus wohnten und Wolf ihr manchmal sagte, dass er sie liebte –, wurde sie von der Verkäuferin sogleich erkannt und freudig begrüßt.
    »Sie sind aber schlank geworden! Sie müssen mir unbedingt Ihre Diät verraten!«
    Permanenter Liebesentzug, dachte Karen, das kann wahre Wunder wirken!
    Aber sie sagte das natürlich nicht, sondern murmelte etwas vom Umzugsstress, und die Verkäuferin nickte mitfühlend.

Weitere Kostenlose Bücher