Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
»Umziehen ist grässlich. Aber wenn man dafür die Figur eines jungen Mädchens bekommt … Ganz klar, dass Sie eine neue Garderobe brauchen, das sieht man sofort. Alles zwei Nummern kleiner als das, was Sie jetzt tragen!«
Innerhalb der nächsten Stunde kaufte Karen viel mehr, als sie vorgehabt hatte, beschwingt durch die Komplimente der Verkäuferin und leichtsinnig gestimmt durch ein Glas Champagner, das ihr angeboten wurde und das in der Wärme des Tages eine rasche und heftige Wirkung zeigte. Zumal sie wieder einmal nichts gegessen hatte.
Sie kaufte sich zwei sehr enge Jeans und einige ebenfalls äußerst knapp geschnittene T-Shirts, einen kurzen und einen langen Rock und – und das musste wirklich am Champagner liegen – einen Bikini. Sie hatte noch nie einen Bikini getragen, nicht einmal, als sie ganz jung gewesen war, und heute, nach der Geburt zweier Kinder, wäre sie eigentlich nicht einmal in ihren kühnsten Träumen auf diesen Einfall gekommen.
»Aber wer, wenn nicht Sie!«, hatte die Verkäuferin enthusiastisch gerufen und dann die ausschlaggebenden Worte hinzugefügt: »Gönnen Sie doch Ihrem Mann auch einmal etwas! «
Mit zwei großen Tüten bepackt, verließ Karen den Laden. Ihr war etwas schwindlig, und untergründig regte sich in ihr
die Frage, was Wolf wohl zu seinen nächsten Kontoauszügen sagen würde, aber der Alkohol verhinderte, dass sie sich darüber ernsthaft Sorgen machte. Sie blieb kurz stehen und überlegte. Eigentlich könnte sie den Luxus auf die Spitze treiben, ihren ganzen Mut zusammennehmen und in ein Restaurant gehen, was sie allein nicht gern tat, was ihr aber aus irgendeinem Grund plötzlich angemessen erschien. Sie hatte schon lange nichts mehr gegessen, was sie nicht selbst gekocht hatte, und vielleicht würde es ihr Spaß bereiten, sich verwöhnen zu lassen. Vielleicht würde es ihr sogar helfen, ein paar Bissen mehr als sonst hinunterzubekommen.
Sie brachte ihre Tüten ins Auto, verstaute sie im Kofferraum und machte sich dann auf den Weg zu einem kleinen italienischen Restaurant, das nicht weit von Wolfs Bank lag. Ganz früher, noch bevor die Kinder kamen, hatten sie und Wolf sich manchmal mittags dort getroffen. Sie hatten Pasta gegessen und sich hinterher eine Portion Tiramisu geteilt, die sie sich gegenseitig mit einem Löffel fütterten. Zwischen den Gängen hatten sie einander an den Händen gehalten und von ihrem Vormittag erzählt. Karen hatte damals noch gearbeitet, und manchmal waren beide so erfüllt gewesen von Erlebnissen, dass sie gleichzeitig redeten und einander schließlich lachend ansahen. Dann wurde ausgehandelt, wer zuerst an der Reihe war, und dabei hatten sie sich schon wieder küssen müssen, und …
Sie seufzte in der Erinnerung an all das. Mit dem ersten Baby hatten ihre gemeinsamen Mittage jäh geendet, weil Karen nicht mehr wegkonnte von daheim. Ein paarmal hatte sie versucht, den Kleinen mitzunehmen, aber er war anstrengend gewesen, hatte ständig geplärrt, und schließlich hatte Wolf gemeint, diese Art von Mittagspause zerrütte ihm völlig die Nerven, und es sei besser, wenn sie ihr Ritual vorläufig ruhen ließen.
Vorläufig … Dann war das zweite Kind gekommen, auch ein Schreihals (»Irgendetwas machst du doch völlig falsch mit den Kindern!«, hatte Wolf mindestens fünfmal in der Woche gesagt), und irgendwann war unausgesprochen klar gewesen, dass es die Mittage beim Italiener nicht mehr gab und nie mehr geben würde.
Sie konnte bloß nicht verstehen, weshalb dies alles in solch eine Kälte gemündet war. Auch andere Liebespaare wurden Eltern und hatten zwangsläufig nicht mehr so viel Zeit füreinander, auch andere Männer wurden in ihrem Beruf gefordert und lebten unter Stress und Anstrengung, und trotzdem gelang es ihnen, die Liebe für den Partner zu bewahren.
Oder nicht?
Gehen sie alle diesen Weg, fragte sich Karen, während sie die immer noch vertrauten Straßen entlanglief, ist es ganz normal, was bei uns passiert ist? Und bin es nur ich, die damit nicht zurechtkommt? Die gleich depressiv wird und langsam, aber sicher in eine Art Magersucht verfällt? Dann hätte Wolf Recht. Dann liegt es an meiner hysterischen Veranlagung und an meinem Hang zum Dramatisieren und …
Sie merkte, wie sich ihre gute Stimmung verflüchtigte und der üblichen Schwermut Platz machte. Jener Schwermut, die zunehmend etwas mit Wolf zu tun hatte oder vielleicht auch nur mit den Dingen, die er ihr so oft sagte. Kränkungen. Jedenfalls empfand
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