Der Fremde ohne Gesicht
Aussage von Ihnen brauchen. Aber wir melden uns dann.«
Der Mann nickte, drehte sich um und ging, seine beiden Retriever mühsam im Zaum haltend, davon. Sharman sah ihm nach. Erstaunlich, wie viele Leute mit Hunden Leichen fanden. Und es stimmte, das mit den Poppy Fields war wirklich eine Tragödie. Er drehte sich um und ging zurück zum Fundort. Gut, dass er noch eine Weile Ruhe hatte, bis der Leichenwagen kam. So konnte er sich gründlich umsehen. Er wusste nicht, warum, aber irgendetwas stimmte nicht an der ganzen Szene.
Viel zu sehen gab es nicht. Die Stelle war von der Straße her nicht einzusehen und Häuser gab es auch keine in der Nähe. Er würde mit dem Bauern reden müssen. Vielleicht war ihm oder einem seiner Leute etwas aufgefallen. Sehr wahrscheinlich war das nicht, aber mehr hatte er im Moment nicht. Die Bahnstrecke, die über die Brücke führte, war noch in Benutzung. Er würde versuchen, mit einigen der Zugführer ins Gespräch zu kommen. Wiederum nicht sehr aussichtsreich, aber versuchen musste er es. Er notierte sich, dass er feststellen musste, zu welchen Zeiten Züge über die Brücke fuhren und wer in den letzten – er überlegte einen Moment – sechs Monaten am Steuer gesessen hatte. Sharmans ganze Laufbahn stützte sich auf seine Fähigkeit, Listen aufzustellen. Bei all den vielen verschiedenen Dingen, die in seinem Leben vor sich gingen, war das seine einzige Chance zu überleben. Außerdem wurde er auch nicht jünger und sein Gedächtnis war nicht mehr das, was es einmal gewesen war. Da waren Listen eine große Hilfe.
Er zog eine kleine Olympus-Kamera aus seiner Tasche und machte ein paar Fotos von der Umgebung. Dann fotografierte er die Brücke und den ganzen Unrat, der darunter lag. Nachdem er vorsichtig die Abfälle, Pappen, Autoreifen und Matratzen entfernt hatte, fotografierte er das, was von der Leiche noch übrig war. Er hatte den Tatort-Spezialisten lange genug bei der Arbeit zugesehen, um eine Vorstellung zu haben, was er fotografieren musste, was wichtig war und was nicht. Nachdem das erledigt war, sammelte er die restlichen Fetzen der Kleidung der Leiche ein und verstaute sie in den Beweismittelbeuteln. Viel war nicht mehr übrig. Ein Teil eines grünen T-Shirts, etwas, das nach einem Paar ausgeblichener Jeans aussah, und ein verrotteter weißer Slip. Plötzlich huschte eine Ratte vor der Leiche vorbei. Sharman war eigentlich ein Tierfreund, aber Ratten fand er ekelhaft. Er trat nach der Kreatur, die sich in Deckung zu bringen versuchte, erwischte sie unter dem Bauch und kickte sie im hohen Bogen über die Abfallhaufen hinweg. Trotz des harten Tritts schien die Ratte unverletzt zu sein und verschwand in den dunklen Schatten am anderen Ende der Unterführung. Zähe Mistviecher, dachte Sharman.
Er sah wieder auf die Leiche hinab. Schimmerte da etwas unter dem frei liegenden Hüftknochen? Er hockte sich hin, hob es auf und schaute es sich an. Es war eine Uhr. Sogar eine ziemlich teuer aussehende goldene Rolex. Er sah sich die Rückseite an. Dort war offensichtlich einmal etwas eingraviert gewesen, aber jemand hatte sich die Mühe gemacht, die Gravur abzufeilen. Das beste Indiz bisher, dachte Sharman zufrieden. Vorsichtig verstaute er es in einem Plastikbeutel.
Unter Sharmans Aufsicht wurden die Überreste der Leiche mitsamt den Maden vorsichtig in eine große, durchsichtige Plastikhülle gepackt, die wiederum in den schwarzen Leichensack gehüllt und dann in einen Sarg gelegt wurde. Er achtete darauf, dass alles mitkam und nichts übersehen wurde. Erst nachdem er sich vergewissert hatte, dass alles vollständig war, erteilte er dem Leichenwagen die Erlaubnis zur Abfahrt. Sobald dieser zwischen den Bäumen verschwunden war, schaute er sich ein letztes Mal gründlich um. Er kletterte auf den Bahndamm und ging die Strecke in jeder Richtung dreihundert Meter weit ab, fand jedoch nichts Bemerkenswertes. Dann suchte er hinter der Brücke und auf den Feldern zu beiden Seiten des Dammes, doch wieder vergeblich. Schließlich schüttelte er verzweifelt den Kopf. Die Leiche hatte zu lange hier gelegen; alles, was Aufschluss hätte geben können, war längst verschwunden. Obwohl er nicht wirklich damit gerechnet hatte, etwas zu entdecken, war er enttäuscht. Wahrscheinlich war es tatsächlich wieder einmal ein Drogenopfer, das sich an einem einsamen Ort den goldenen Schuss gesetzt hatte. Es wäre weder das erste noch das letzte Mal. Vielleicht hatte Bogner Recht und er machte aus einer
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