Der Fremde ohne Gesicht
legal. Millionenschwer. Ich habe verschiedene Gerüchte gehört, Stanley. Die meisten bezogen sich auf deine Beziehung zu Kate.«
»Die Gerüchteküche war wohl wieder mächtig am Brodeln«, warf Sharman ein.
Booth lachte. »Was stimmt denn nun?«
»Adams.«
»Dachte ich mir«, nickte Booth.
»Natürlich soll auf keinen Fall jemand wissen, dass er mich suspendiert hat, weil ich meinen Job gemacht habe.«
»Ich würde mir nicht zu viele Gedanken darum machen. Man munkelt, er wird dich suspendiert lassen, bis er den Job des Deputys hat, und dann wird alles vergeben und vergessen sein.«
»Auf seiner Seite vielleicht. Ich vergesse nicht so schnell. Ist in dem Umschlag etwas, das ich wissen sollte?«
»Nicht viel, fürchte ich. Zu der Zeit, um die es dir geht, sind kaum ungewöhnliche Verbrechen vorgekommen.«
Sharman war enttäuscht. Er wusste nicht genau, wonach er eigentlich suchte, aber er war sicher, dass er es merken würde, wenn er es vor sich hatte. Er brauchte irgendetwas, das ihm half, das Mädchen, das jetzt auf einer Bahre in Sams Leichenhalle lag, mit einem Gesicht und einem Namen auszustatten.
»Übrigens sind in den letzten sechs Monaten knapp über hundert junge Mädchen aus der Gegend verschwunden.«
Die Zahl überraschte Sharman. Er wusste, dass es regelmäßig ein paar Vermisste gab, aber hundert? Das war schon eine beträchtliche Zahl. »Hundert? Verdammte Scheiße. Was ist mit all denen passiert?«
»Abgehauen nach London, mit ihren Freunden durchgebrannt, tot und begraben … wer weiß? Wenn du mich fragst, Stan, hast du dir ziemlich viel vorgenommen, so ganz ohne Team.«
»Ich weiß. Aber ich muss irgendwie klarkommen. Ich kann nur mein Bestes tun.«
»Na, dann viel Glück. Die Namen und Adressen sind alle in dem Umschlag. Versuch’s mal bei der Suzy-Lamlugh-Stiftung, die haben mir schon öfter geholfen. Vielleicht spart dir das eine Menge Arbeit.«
»Danke, Sid.«
Booth sog nachdenklich die Luft durch die Zähne. »Eine Sache könnte interessant sein, aber das ist pure Spekulation.«
Sharman sah ihn erwartungsvoll an.
»In einem Wald, ungefähr zwei Meilen von dem Fundort der Leiche entfernt, ist ein ausgebranntes Auto gefunden worden.«
Sharman zuckte die Schultern. »Schön, aber das kommt doch ziemlich häufig vor.«
»Sicher, aber diesmal war es ein bisschen anders. Es gab ungewöhnliche Umstände. Der Wagen wurde nie als gestohlen gemeldet und es hat auch niemand dafür Ansprüche an eine Versicherung gestellt.«
»Wer ist der Besitzer?«
»Der frühere Besitzer sagt aus, er hätte den Wagen ungefähr zwei Wochen vorher verkauft.«
»An wen?«
»Die örtliche Polizei hat das überprüft. Wer immer es war, er hat einen falschen Namen und eine falsche Adresse angegeben. Was könnte dahinter stecken?«
»Wurde der Wagen vielleicht bei einem Verbrechen benutzt? Zum Beispiel als Fluchtwagen bei einem Raubüberfall?«
»Darauf gibt es keine Hinweise.«
»Nirgends?«
»Nirgends, wo man einen Zusammenhang sehen könnte.«
»Okay, das ist schon seltsam. Ich checke das mal.«
Sid Booth öffnete die Beifahrertür. »Ich muss los, Stanley. Kann mich den Job kosten, wenn ich mit Leuten wie dir gesehen werde. Ich werde jetzt mit der trauernden Familie einen Happen essen gehen und allen erzählen, wie wunderbar ich die alte Hexe fand.«
»Das wird dir im Hals stecken bleiben.«
»Vielleicht, dann spüle ich es eben mit Freibier runter.«
Sharman lachte. »Bis dann, Sid, trink einen auf mich, und noch mal vielen Dank.«
Booth ging in Richtung der Trauergesellschaft davon und verschwand in der Menge der schwarz gekleideten Kriminellen.
Sam ließ ihren Blick über das trostlose Fleckchen Erde wandern, wo das unbekannte Mädchen gefunden worden war. Es war eine schmutzige, unangenehme Umgebung, nicht gerade ein Ort, wo man sich wünschen würde, seine Tage zu beenden. Die heiße Witterung hatte alle Farben verblassen lassen. Das Gras am Bahndamm war braun und ausgedörrt, und die Erde auf den Feldern war nicht feucht und dunkelbraun, sondern hartgebacken und zerkrümelte ihr in den Händen zu Staub. Sie schaute hinüber zu Marcia, die mit sichtlichem Ekel die Müllhalde betrachtete. Sie liebte die forensische Wissenschaft, aber es gab Dinge, an die sie sich nie gewöhnen würde.
»Ich hasse es, Müllkippen zu untersuchen. Man weiß nie, was in diesen Haufen lauert.«
Sam lächelte ihre Freundin an. Wie immer hatte sie Marcia nur einmal zu fragen brauchen. Nachdem sie
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