Der Fremde ohne Gesicht
der Trauernden und betrat den Friedhof. Während er sich durch die Menschenmenge schob, kamen ihm ein paar Gesichter bekannt vor, und mehrere davon musterten ihn länger, als ihm behagte – entweder kannten sie ihn oder fanden ihn hier fehl am Platz oder auch beides.
Sid stand auf der anderen Seite des Friedhofes hinter einem großen viktorianischen Grabstein und beobachtete die Zeremonie. Sharman ging zu ihm hinüber. »Morgen, Sid.«
Booth warf ihm einen Blick zu. »Hi, Stan, lange nicht gesehen. Wie läuft’s?«
Sharman deutete mit dem Kopf in Richtung der großen Trauergesellschaft. »Verwandter von dir?«
Sid lachte. »So ähnlich. Minnie Sitwell. Sie war die Mutter von so ziemlich allem, was zwei Beine hat. Oberhaupt einer der größten kriminellen Familien des Landes. Die meisten davon hat sie selber zur Welt gebracht. Ich dachte mir, ich erweise ihr die letzte Ehre. Nur um sicherzugehen, dass die alte Hexe auch wirklich hin ist.«
»Was hattest du mit ihr zu tun?«
»Ich habe sie mal wegen Mordes festgenommen, als ich noch in London war. Sie hat vor ungefähr zwanzig Jahren einen Londoner Gangster namens Black Henry umgelegt. Hat ihm mit einer Metallstange den Schädel eingeschlagen, als er ihr eine Fuhre Drogen abjagen wollte.«
»Das wird er sich gemerkt haben.«
»Hat ihm richtig Kopfschmerzen gemacht. Sie wurde wegen Mordes angeklagt, plädierte auf Totschlag und bekam Lebenslänglich. Nach fünf Jahren war sie draußen. Eine der größten Partys im East End seit Jahren. Sogar die Zwillinge schickten Karten.«
»Und wie ist sie hier gelandet?«
»Sie hat sich vor ein paar Jahren mit Krebs zur Ruhe gesetzt. Wollte ihre letzten Jahre in aller Stille verbringen. Eigentlich fast so wie ich.«
»Ich würde die Arbeit beim Criminal Intelligence Service nicht als Ruhestand bezeichnen.«
»Ist aber nicht mit Kripoarbeit zu vergleichen. Statt Verbrecher einzulochen, erzähle ich jetzt anderen, wie sie das machen müssen. Es ist nicht dasselbe, Stan. Ich vermisse das Getümmel.«
Sharman nickte mitfühlend. Er mochte Booth. Er war ein Bulle nach seinem Herzen und hatte eine der besten Aufklärungsquoten von allen, die er kannte.
»Die alte Hexe hat sogar einen Neffen am John’s College.«
»Da hat er’s ja zu was gebracht.«
»Er studiert Volkswirtschaft. Man rechnet damit, dass er summa cum laude abschließt.«
»Dann wird er also das Familiengeschäft übernehmen?«
Sid sah ihn an und grinste bitter. »Genau wie bei der verdammten Mafia. Von Drogen und Prostitution bis zu Immobilien und Aktienanteilen ist alles drin. Verrückte Welt, was, Stan? Verbrecher werden zu Millionären, während wir mit Mühe und Not eine läppische Pension ergattern.«
Sharman schüttelte den Kopf. »Es ist zum Totlachen, Sid.«
Die beiden Beamten kehrten dem Grabstein und der Trauerfeier den Rücken und gingen über den Friedhof zum Ausgang.
»Ich bin der einzige Bulle, der es je geschafft hat, sie hinter Gitter zu bringen. Ging ihr schwer an die Nieren. Ich glaube, das Gefängnis ist ihr nicht gut bekommen. Sie hat gedroht, zurückzukommen und mich zu erwischen, weißt du. Und wenn sie aus dem Sarg kriechen und sich selber ausbuddeln müsste, sie würde kommen und mich fertig machen.«
Sharman sah ihn ernst an. »Macht dir das Sorgen, Sid?«
»Überhaupt nicht« erwiderte Booth. »Ich habe den Beerdigungsunternehmer bestochen, damit er sie mit dem Gesicht nach unten begräbt. Ich hoffe, ihr gefällt Sydney.«
Lachend überquerten sie die Straße und gingen auf Sharmans Wagen zu.
Nachdem sie eingestiegen waren, reichte Sid Sharman einen braunen Umschlag. »Da drin sind ein paar Sachen, die dich vielleicht interessieren.«
Sharman nahm den Umschlag und schob ihn in sein Handschuhfach.
»Erzähl, warum haben sie dich suspendiert?«
Sharman warf seinem Freund einen Seitenblick zu. »Ich dachte, das hätte sich inzwischen herumgesprochen.«
Booth starrte mit leerem Blick zum Friedhof hinüber, wo die Scharen der Trauergäste den Rückweg zu ihren Autos angetreten hatten. »Wenn hier der Teufel sein Netz auswerfen könnte.« Sharman folgte seinem Blick und Booth stellte ihm die illustren Persönlichkeiten vor. »Der halbe Mob von London ist hier. Siehst du den Typen da?« Er deutete auf einen Mann mittleren Alters in einem eleganten schwarzen Anzug. »Einer der Neffen der Zwillinge. Wird als heißer Kandidat zur Übernahme des Imperiums gehandelt, falls er das nicht schon getan hat. Natürlich alles ganz
Weitere Kostenlose Bücher