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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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brauchte. Die Erkenntnis, daß Shan die Lüge entdeckt hatte, stellte vermutlich den einzigen Grund dafür dar, daß der Mann mit ihm sprach.
    Der herausfordernde Blick des Mannes wich einer unbeugsamen Entschlossenheit. »Meine Tochter ist eine gute Arbeiterin. Sie verdient eine Chance.«
    »Ich bin nicht wegen Ihrer Tochter hier, sondern wegen der Beziehung Ihrer Familie zu dem alten Zauberer.«
    »Wir brauchen keine Zauberer.«
    »Khorda hat für Ihre Tochter Bannsprüche angefertigt. Ich glaube, Ihre Tochter bringt sie hierher mit.«
    Der Mann preßte sich eine Faust an die Schläfe, als verspürte er plötzliche Schmerzen. »Es ist nicht illegal, um Zaubersprüche zu bitten. Heutzutage nicht mehr.«
    »Und doch versuchen Sie, es zu verbergen, indem Sie Ihre Tochter als Botin benutzen.«
    Der ragyapa dachte sorgfältig darüber nach. »Ich unterstütze sie. Eines Tages wird sie ein eigenes Geschäft besitzen.«
    »Ein Geschäft kann sehr teuer sein.«
    »Noch fünf Jahre. Ich habe es genau ausgerechnet. Die ragyapas haben die sichersten Berufe von ganz Tibet.« Es klang wie ein alter Witz.
    »Ist Tamdin hiergewesen? Benötigen Sie deshalb die Zaubersprüche?« fragte Shan. Oder wohnt Tamdin hier, sollte er vielleicht fragen. Könnte es denn wirklich so einfach sein? Die verbitterten, abgeschobenen ragyapas mußten den Rest der Welt hassen, vor allem dessen hohe Beamten. Und wer wäre qualifizierter gewesen, Ankläger Jao abzuschlachten? Oder Xong De vom Ministerium für Geologie das Herz herauszuschneiden?
    Der Mann seufzte. »Die Zauber sind nicht für uns hier bestimmt.«
    »Wofür dann? Und für wen? Soll das heißen, Sie verkaufen sie an jemand anderen?«
    »Über diese Dinge spricht man nicht.« Der Mann wischte noch einmal über die Klinge, als wolle er Shan warnen.
    »Verkaufen Sie die Zauber?« wiederholte Shan. »Wollen Sie Ihrer Tochter auf diese Weise das Geschäft bezahlen?«
    Der Mann schaute zu den kreisenden Vögeln empor. Ein ragyapa-Dorf wäre der perfekte Ort für einen Mord, erkannte Shan. Als würde man den eigenen Offizier auf dem Schlachtfeld erschießen, weil man ihn haßte. Eine zusätzliche Leiche würde gar nicht auffallen.
    Der Mann antwortete nicht. Er blickte hinunter ins Dorf und sah, daß die anderen Männer ihn anstarrten. Wütend herrschte er sie an, worauf sie begannen, ihre Arbeit an den Werkzeugen fortzusetzen. Yeshe raufte seltsamerweise immer noch mit den Kindern.
    Shan wandte sich wieder dem Mann zu. Der ragyapa war nicht nur älter als die meisten anderen, er war offenbar auch der Dorfvorsteher. »Ich möchte lediglich wissen, wer es ist. Irgend jemand muß zu verlegen oder zu ängstlich sein, um selbst nach den Sprüchen zu fragen. Ist es jemand aus der Regierung?« Der Mann drehte sich von Shan weg. »Jemand anders könnte auf die gleiche Idee kommen wie ich«, sagte Shan zu seinem Rücken. »Dieser Jemand würde vielleicht ganz andere Methoden anwenden, um Sie zu überzeugen.«
    »Sie meinen die Öffentliche Sicherheit«, flüsterte der Mann. Die Kriecher wurden sich bestimmt weitaus stärker als Shan für die Arbeitspapiere seiner Tochter interessieren. Sein Gesicht schien bei diesen Worten in sich zusammenzufallen. Er starrte zu Boden.
    Shan nannte dem Mann seinen Namen.
    Der Dorfvorsteher sah überrascht auf, denn er war solche Gesten nicht gewohnt. »Ich heiße Merak«, erwiderte er vorsichtig.
    »Sie sind bestimmt sehr stolz auf Ihre Tochter.«
    Merak hielt inne und betrachtete Shan nachdenklich. »Als ich ein Junge war«, sagte er, »konnte ich nie verstehen, weshalb die anderen mich nicht in ihrer Nähe haben wollten. Ich habe mich zum Stadtrand geschlichen und mich dort versteckt, nur um den anderen beim Spielen zuzusehen. Wissen Sie, wer mein bester Freund war? Ein junger Geier. Ich habe ihn darauf dressiert, zu mir zu kommen, wenn ich ihn rief. Er war das einzige Lebewesen, das mir vertraut hat, das mich so akzeptiert hat, wie ich war. Als ich eines Tages nach ihm rief, hat ein Adler sich auf ihn gestürzt. Er hat meinen Freund getötet. Hat ihn einfach so aus der Luft gepflückt, weil er auf mich geachtet hat und nicht auf den Himmel.«
    »Man findet nur selten jemanden, der Vertrauen hat.«
    »Wir sind auch Geier. Zumindest hält uns der Rest der Welt dafür. Mein Vater hat immer darüber gelacht. Er hat gesagt: >Das ist der große Vorteil, den wir gegenüber allen anderen haben. Wir wissen genau, wer wir sind.<«
    »Jemand hat Sie darum gebeten, ihm einen

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