Der fremde Tibeter
Schädelhöhle lag knapp anderthalb Kilometer von hier entfernt. War das hier der Hintereingang der Amerikaner? Waren Fowler und Kincaid so dumm gewesen, zu dem Schrein zurückzukehren? Als er sich dem Grat näherte, hörte er ein eigentümliches Geräusch. Wie Glocken, dachte er. Nein, Trommeln. Ein paar Meter weiter erkannte er, daß es sich um Rockmusik handelte. Als er den Kamm erreichte, ging er sofort in die Hocke und wich ein Stück zurück. Da stand zwar ein Geländefahrzeug, aber es gehörte nicht den Amerikanern. Der Wagen war leuchtend rot.
Nachdem Shan sich von dem Schreck erholt hatte, streckte er vorsichtig den Kopf zwischen den Felsen hervor. Es war der große Land Rover, den Hu gefahren hatte, aber die Gestalt auf dem Fahrersitz, die im Takt der Musik auf das Lenkrad trommelte, war zu groß, als daß es sich um Hu hätte handeln können.
Es ergab keinen Sinn, an dieser Stelle anzuhalten. Man konnte keine weitere Menschenseele sehen, niemanden, auf den der Wagen vielleicht gewartet hätte. Es gab nicht einmal sonderlich viel Landschaft zu betrachten, weil die vorstehenden Felsen den Blick entlang des Abhangs größtenteils verwehrten.
Shans Neugier führte dazu, daß er, ohne sich dessen bewußt zu sein, langsam aufstand. Hinter dem Wagen hatten sich frische Erdhaufen aufgetürmt, und vor dem Fahrzeug befand sich ein riesiger, anderthalb Meter hoher Felsblock, der gefährlich nahe am oberen Rand einer Böschung lag, die steil zum Weg hin abfiel. Plötzlich richtete der Mann hinter dem Steuer sich auf und schaute angestrengt zum Pfad hinunter. Der Wagen mit Feng und Yeshe kam in Sicht. Die Gestalt in dem Land Rover hob die Faust wie bei einer Siegesgeste und gab Vollgas.
»Nein!« schrie Shan und rannte auf den Wagen zu. Die Räder drehten durch und schleuderten noch mehr Erde empor. Der Felsblock bewegte sich.
Shan rannte durch die Staubwolke hindurch und hämmerte heftig gegen das Fenster auf der Fahrerseite. Der Mann drehte sich um und starrte ihn völlig verblüfft an. Es war Leutnant Chang.
Shan konnte sehen, wie er nach dem Schalthebel griff. Im ersten Moment schien der Wagen ein Stück zurückzurollen, als Chang dort herumhantierte. Dann machte das Fahrzeug einen Satz nach vorn. Mit einem mächtigen Ruck kippten sowohl der Felsblock als auch der Land Rover über die Kante nach unten.
Shan sah wie in Zeitlupe, daß Feng anhielt und dann mit Yeshe genau in der Sekunde aus dem Wagen sprang, als der Felsblock an ihnen vorbeisauste und im Abgrund verschwand. Der Land Rover fiel seitlich auf den Abhang und rollte die steile Böschung hinunter. Glas zerbarst, Metall knirschte, und die Räder drehten sich noch immer. Mitten in der Umdrehung erreichte der Wagen den Weg und landete in einer Staubwolke auf der Fahrerseite. Die vordere Hälfte des Fahrzeugs ragte hinaus in den Abgrund.
Shan erreichte den Pfad völlig außer Atem genau in dem Augenblick, als ein Arm sich durch das zerbrochene Beifahrerfenster streckte. Chang erschien in der Öffnung und fing an, sich hinauszuziehen. Seine Stirn war mit Blut beschmiert. Die Musik spielte noch immer.
Leutnant Chang hielt in der Bewegung inne und rief nach Feng, der in drei Metern Entfernung stand. In diesem Moment ächzte das Metall, und irgend etwas gab nach. Chang schrie auf. Der Wagen rutschte ein paar Zentimeter weiter über die Kante und blieb dann wieder liegen.
Auf Changs Gesicht zeichnete sich Angst ab. »Sergeant!« brüllte er. »Holen Sie mich..«
Er konnte den Satz nicht mehr beenden. Der Land Rover kippte ganz plötzlich zur Seite und verschwand außer Sicht. Sie konnten noch immer die Musik hören, während er fiel.
Schweigend fuhren sie den Weg zurück, auf dem sie gekommen waren, bis sie wieder die Hauptstraße erreichten. Sergeant Feng war völlig durcheinander. Seine Hände am Lenkrad zitterten. Auch wenn er sich noch so sehr dagegen sträubte, Shan wußte, daß Sergeant Feng der Wahrheit letztendlich nicht ausweichen konnte. Chang hatte versucht, auch ihn zu ermorden.
Als sie schließlich den Bergkamm oberhalb der Bor-Mine soeben hinter sich gelassen hatten, bedeutete Shan dem Sergeanten, er möge anhalten. Da war ein Schrein, den er bei ihrem ersten Besuch gar nicht bemerkt hatte, auf einem Vorsprung, hundert Meter über dem Talgrund. Rund um einen Steinhaufen flatterten Gebetsfahnen. Manche waren lediglich bunte Stoffetzen. Andere waren riesige Banner, auf die man Gebete gemalt hatte und die von den Tibetern Pferdefahnen
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