Der fremde Tibeter
Außerdem könnten Sie die Provinzen Sichuan, Gansu und Qinghai überprüfen. Und dann sind da noch die zweifelhaften Elemente aus dem Hochgebirge. Die haben sich nie registrieren lassen.«
»Nein«, sagte Yeshe. »Falls seine Familie nicht registriert gewesen wäre, hätte er niemals die Freigabe für seine Anstellung erhalten.«
»Und seine Arbeitspapiere stammen daher höchstwahrscheinlich auch nicht aus einer anderen Provinz«, fügte Shan hinzu.
»Stimmt.« Yeshes Gesicht hellte sich auf. »Verfügt denn nicht irgend jemand über eine Hauptliste, nur für diese Präfektur?«
»Dezentralisierung für maximale Produktion.« Die Frau sprach nun mit einer vertrauten, antiseptischen Stimme, der Stimme für die Fremden, deren Tonfall darauf abgestimmt war, nur noch das zu rezitieren, was auf den Bannern zu lesen stand oder aus den Lautsprechern drang.
»Ich habe außerdem gehört, daß wir uns keine Sorgen mehr wegen schwarzer oder weißer Katzen machen, sondern uns lieber darauf konzentrieren sollten, Mäuse zu fangen«, sagte Shan.
»Wir wären gar nicht dazu befugt, eine solche Liste zu führen«, erwiderte die Frau nervös. »Das Büro des Ministeriums liegt in Markam. Wenn es eine Hauptliste gibt, dann dort.«
»Wie lange fährt man bis dorthin?«
»Sechzehn Stunden. Vorausgesetzt, es gibt weder einen Erdrutsch noch ein Hochwasser oder irgendwelche Manöver des Militärs.« Die Frau runzelte die Stirn und ging zu einem staubbedeckten Regal an der Rückwand des Büros. »Ich habe hier lediglich die Namen derjenigen Angehörigen aller Produktionseinheiten, die aufgrund guter Leistungen ausgezeichnet worden sind. Zumindest während der letzten fünf Jahre.« Sie überreichte Yeshe einen Stapel verstaubter spiralgebundener Bücher.
»Das ist doch wie die Suche nach einem einzelnen Reiskorn in...«, setzte Yeshe an.
»Nein, vielleicht nicht«, unterbrach sie ihn und schien sich zum erstenmal für die Aufgabe zu erwärmen. »Die meisten der alten Klans wurden in ungefähr sechs Kollektiven zusammengefaßt. Man hielt sie für das größte politische Risiko und wollte sie besser im Auge behalten können. Suchen Sie einfach nach dem Namen des Klans.«
»Und falls wir das betreffende Kollektiv feststellen können?«
»Dann geht die Suche erst richtig los. Es ist Frühling, und die Herden sind in Bewegung.«
Nach einer halben Stunde hatten sie drei Kollektive mit Angehörigen des Dronma-Klans herausgefunden. Eines lag mehr als dreihundert Kilometer von ihnen entfernt. Beim zweiten, fast hundertsechzig Kilometer weit weg, ging jemand nach dem zwanzigsten Klingeln ans Telefon. Der Mann kannte den Namen. »Alter Klan, nicht viele übrig. Bleibt dicht bei den Herden. Sind Tierfänger.« Der Mann sprach mit einem städtischen Shanghaier Akzent, der irgendwie fehl am Platz wirkte. »Nur ein halbes Dutzend Erwachsener, drei davon über sechzig Jahre alt. Einer der anderen hat bei einem Reitunfall ein Bein verloren.«
Beim dritten Kollektiv, keine fünfundzwanzig Kilometer entfernt, teilte man ihnen am Telefon mit, es gäbe dort mehr Angehörige des Dronma-Klans als Schafe auf den Hügeln.
Shan nahm seine Landkarte und markierte die Lage der drei Kollektive. Die Zeit reichte nur für einen Versuch.
Er ging nach draußen, als könnte der Wind ihm eine Antwort zuwehen. Eine alte Frau ritt auf einem Pony vorbei und hielt ein Schwein im Arm, als wäre es ein kleines Kind. Plötzlich hielt Shan inne und rannte dann wieder hinein. »Wir fahren hierhin«, verkündete er und wies auf das zweite Kollektiv.
»Aber Sie haben es doch gehört«, protestierte Yeshe. »Das ist nur ein halbes Dutzend Leute.«
»Die Schuhe«, sagte Shan. »Ich konnte bislang nicht begreifen, wieso Balti zwei linke Schuhe unter seinem Bett hatte.«
Als sie sich drei Stunden später den baufälligen Gebäuden des Kollektivs näherten, stieg Sergeant Feng plötzlich mit aller Kraft auf die Bremse und wies nach vorn. In der Nähe der Häuser stand ein Helikopter mit dem Abzeichen des Grenzkommandos und wurde von einem Soldaten mit einem automatischen Gewehr bewacht.
»Glückwunsch«, murmelte Feng. »Du hast richtig vermutet.«
Yeshe wollte etwas sagen, doch statt dessen atmete er plötzlich tief ein. Shan folgte seinem Blick. Dort vor ihnen stand Li Aidang mitten auf dem Platz, hatte die Arme in die Seiten gestemmt und gab sich ganz wie ein militärischer Befehlshaber. Hinter ihm, auf dem Pilotensitz des Hubschraubers, entdeckte Shan ein bekanntes
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