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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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ist von ganz allein auf die Idee gekommen, uns umzubringen? Als kleiner Zeitvertreib an seinem freien Tag?«
    Tan seufzte. »Wo bist du?«
    »Alle anderen Spuren sind kalt. Ich werde Jaos Fahrer finden. Ich glaube, er ist am Leben.«
    »Wenn du den Bezirk verläßt, giltst du als entflohener Strafgefangener.«
    Shan erzählte ihm von den Unterlagen, die sie in der Garage gefunden hatten, und weshalb das bedeutete, daß er Balti aus findig machen mußte. »Falls ich vorher um Erlaubnis gebeten hätte, wären entsprechende Vorbereitungen getroffen worden. Etwas davon wäre vielleicht den Hirten im Osten zu Ohren gekommen, und jede noch so kleine Chance, Balti zu finden, wäre dahin gewesen.«
    »Du hast auch dem Justizministerium nichts erzählt?«
    »Kein Wort. Ich handle auf eigene Verantwortung.«
    »Also weiß Li nichts davon.«
    »Es kam mir der Gedanke, daß es für uns womöglich recht vorteilhaft wäre, mit Jaos Fahrer zu sprechen, ohne dazu die Unterstützung des stellvertretenden Anklägers in Anspruch zu nehmen.«
    Während der nachfolgenden Stille, die von Tans Unschlüssigkeit zeugte, beschloß Shan, dem Oberst von der Hand zu erzählen. Es war ein öffentliches Telefon und wurde daher höchstwahrscheinlich nicht abgehört. Die Hand des Dämons, die Rebecca Fowlers Arbeiter so sehr in Angst und Schrecken versetzt hatte, war hervorragend gearbeitet. Ein flüchtiger Betrachter hätte mühelos zu der Überzeugung gelangen können, daß es sich dabei um nichts weniger als um die verwelkten Überreste einer Kreatur aus Fleisch und Blut handelte. Doch Shan hatte der Amerikanerin gezeigt, daß die Sehnen der Hand in Wirklichkeit aus Leder bestanden, das kunstvoll über Kupferbändern vernäht worden war. Die rosafarbene Handfläche war aus verblichener roter Seide gefertigt. Als Shan die Hand anhob, baumelten die Finger schlaff in alle Richtungen.
    »Du sagst, du hast ein Teil von dem Tamdin-Kostüm gefunden«, stellte Tan angespannt fest.
    »Von dem Kostüm, das laut Direktor Wen nirgendwo fehlt.« Shan hatte seinem Block bereits eine entsprechende Notiz hinzugefügt. Überprüfe die Bestandsverzeichnisse des Büros für Religiöse Angelegenheiten.
    »Vielleicht hat eines in irgendeinem Versteck gelegen.«
    »Das glaube ich nicht. Diese Kostüme waren dermaßen selten und wertvoll, daß sie bestimmt alle erfaßt worden sind.«
    »Und das heißt?«
    »Das heißt, daß jemand lügt.«
    Es herrschte kurz Schweigen. »Einverstanden. Bring den Fahrer lebend zurück. Falls du in achtundvierzig Stunden noch nicht wieder hier bist, hetze ich dir die Öffentliche Sicherheit auf den Hals«, knurrte der Oberst und legte auf.
    Patrouillen. Falls es nicht gut lief, konnte Tan noch immer aufgeben. Li würde Sungpo anklagen, der Fall würde abgeschlossen werden, und die 404te würde ihre Strafe erhalten. Tan konnte die eigene Untersuchung einfach dadurch beenden, indem er Shan zum Flüchtling erklärte. Alles, was eine Streife der Öffentlichen Sicherheit zurückbringen mußte, war die Tätowierung auf Shans Arm.
    Falls Shan überdies volle zwei Tage benötigte, würden ihm nur vier weitere Tage bis zu Sungpos Verhandlung bleiben. Zwei Tage. Balti vom Dronma-Klan hatte eine ganze Woche Zeit gehabt, um sich in Kham zu verstecken. Doch zum Glück bestand Shans Aufgabe nicht aus dem unmöglichen Unterfangen, einen einzelnen Mann inmitten der knapp vierhunderttausend Quadratkilometer des schwierigsten Terrains nördlich der Antarktis aufzuspüren. Er mußte lediglich Baltis Klan finden, und das war immerhin nur äußerst unwahrscheinlich, aber nicht völlig undenkbar. Für einen khampa würde der sicherste Ort stets im Schoß seiner Familie liegen.
    Als sie weiterfuhren, wandte Shan sich an Yeshe. »Ich bin Ihnen dankbar. Wegen der ragyapas.«
    »Es war nicht allzu schwierig, nachdem ich erstmal all diese Armeesocken entdeckt hatte.«
    »Nein, ich meine etwas anderes. Danke, daß Sie dem Direktor nichts erzählt haben. Sie hätten damit Pluspunkte sammeln können, und es hätte sich gut in Ihrer Akte gemacht. Vielleicht hätte es Ihnen sogar zu Ihren Reisepapieren verholfen.«
    Yeshe schaute hinaus auf das scheinbar endlose Plateau, das an ihnen vorüberzog. »Man hätte das Dorf gestürmt. All diese Kinder.« Er zuckte die Achseln. »Und vielleicht irre ich mich auch. Vielleicht haben sie die Vorräte völlig legal erhalten. Vielleicht«, sagte er und drehte sich zu Shan, »haben sie die Sachen als Bezahlung für die

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