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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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sich weigerte, den Blick zu erwidern. »Ich bin nur heute nachmittag hier«, sagte Yeshe zögernd.
    »Ich habe nicht um Sie gebeten. Wie Sie selbst sagen, handelt es sich hierbei um Ihre Arbeit. Sie werden dafür bezahlt, Informationen zu sammeln.« Shan wunderte sich über Yeshes Unentschlossenheit. Eigentlich glaubte er, den Grund für die Anwesenheit seines neuen Assistenten erkannt zu haben. Falls das Büro ihn im Auge behalten wollte, würde es sich nicht nur auf die Wanze im Telefon verlassen.
    »Man hat uns davor gewarnt, gemeinsame Sache mit den Häftlingen zu machen. Ich bin auf der Suche nach einer besseren Beschäftigung. Die Arbeit mit einem Kriminellen - ich weiß nicht. Man könnte mir das als...« Yeshe verstummte.
    »Rückentwicklung vorwerfen?« schlug Shan vor.
    »Genau«, sagte Yeshe mit einem Anflug von Dankbarkeit.
    Shan musterte ihn einen Moment lang, schlug dann den Block auf und begann zu schreiben. Ich habe Yeshe, den Bürogehilfen der zentralen Gefängnisverwaltung des Bezirks Lhadrung, vor dem heutigen Tag noch nie getroffen. Ich handle auf direkte Anweisung von Oberst Tan, dem Leiter des Bezirks Lhadrung. Er hielt inne und fügte dann hinzu: Ich bin tief beeindruckt, wie sehr Yeshe sich der sozialistischen Reform verpflichtet fühlt. Er versah die Notiz mit Unterschrift und Datum. Dann reichte er das Blatt dem nervösen Tibeter, der die Sätze mit ernster Miene las, das Stück Papier zusammenfaltete und in die Tasche steckte.
    »Bloß für heute«, sagte Yeshe, als wolle er sich selbst beruhigen. »Mir werden immer nur Tagesaufträge zugewiesen.«
    »Direktor Zhong wird auf eine solch wertvolle Hilfskraft gewiß nicht länger als ein paar Stunden verzichten wollen.«
    Yeshe zögerte kurz, als würde Shans Sarkasmus ihn verwirren. Dann zuckte er die Achseln, nahm die Liste und wurde sofort ganz sachlich. »Die Ärztin«, sagte er. »Fragen Sie nicht nach der Ärztin. Rufen Sie das Büro des Krankenhausleiters an. Sagen Sie, Oberst Tan brauche den medizinischen Bericht. Der Leiter hat ein Faxgerät. Weisen Sie ihn an, das Dokument sofort zu faxen, und zwar nicht an Sie, sondern an die Sekretärin des Direktors. Der Direktor ist nicht da. Ich werde mit ihr sprechen.«
    »Er ist nicht da?«
    »Ein Fahrer vom Ministerium für Geologie hat ihn abgeholt.«
    Da erinnerte Shan sich an den fremden Geländewagen, der ihm nach dem Fund der Leiche aufgefallen war. »Warum sollte das Ministerium für Geologie die Baustelle der 404ten aufsuchen?«
    »Weil sie sich auf einem Berg befindet«, entgegnete Yeshe lakonisch.
    »Bitte?«
    »Das Ministerium ist für die Berge zuständig«, merkte Yeshe beiläufig an und musterte die Namenliste. »Leutnant Chang. Sein Tisch steht am anderen Ende des Flurs. Die Sanitäter, die den Leichnam von den Wachen übernommen haben. Ihre Aussagen dürften im Lager Jadefrühling zu bekommen sein«, sagte er.
    »Ich brauche einen offiziellen Wetterbericht für vorgestern«, sagte Shan. »Und eine Liste der ausländischen Touristengruppen, die im Lauf des letzten Monats nach Tibet einreisen durften. Der Chinesische Reisedienst in Lhasa müßte über entsprechende Unterlagen verfügen. Und sagen Sie dem Sergeanten, daß wir nachher noch einmal in die Stadt fahren müssen.«
    Fünf Minuten später brachte Yeshe ihm die ersten Berichte, die noch warm vom Faxgerät waren. Shan las sie schnell und fing an zu schreiben. Er war beinahe fertig, als draußen plötzlich eine laut heulende Sirene einsetzte. Shan hatte dieses Signal während all seiner Zeit bei der 404ten erst ein einziges Mal gehört. Es bedeutete, daß man Gewehre an die Wachen austeilen würde. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Choje hatte begonnen, Widerstand zu leisten.
    Der Oberst musterte Shan argwöhnisch, als er eine Stunde später mit dem Bericht vor Tans Schreibtisch erschien. Dann nahm er die Unterlagen und las sie.
    Das Gebäude schien annähernd leer zu sein. Nein, nicht nur leer, stellte Shan fest, sondern entvölkert, verlassen, so wie kleine Säugetiere ihren Schlafplatz aufgeben, sobald das Raubtier auftaucht, das an der Spitze der Nahrungskette steht. Der Wind ließ die Scheiben klirren. Draußen war eine Krähe zu sehen, die von einem Schwarm kleinerer Vögel attackiert wurde.
    Oberst Tan blickte auf. »Du hast mir hier die untergeordneten Berichte gebracht. Aber die Form ist unvollständig.«
    »Ihnen liegen alle direkten Tatsachen der Ermittlungen vor. Und die daraus zu ziehenden Schlüsse,

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