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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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soweit möglich. Das ist alles, was ich tun kann. Sie werden jetzt einige Entscheidungen treffen müssen.«
    Tan verschränkte die Hände über den Blättern. »Es ist schon sehr lange her, daß jemand sich über meine Autorität lustig gemacht hat. Genaugenommen kann ich mich sogar an keinen einzigen Fall erinnern, seit ich den Bezirk übernommen habe. Nicht, seitdem mir das schwarze Siegel verliehen wurde.«
    Shan starrte zu Boden. Das schwarze Siegel bedeutete die Vollmacht, Todesurteile zu unterzeichnen.
    »Ich hatte auf mehr gehofft, Genosse. Ich bin davon ausgegangen, du würdest gründliche Arbeit leisten und die Gelegenheit nutzen wollen, die ich dir geboten habe.«
    »Nach Prüfung der Sachlage schien es keinen Grund für weitere Verzögerungen zu geben«, sagte Shan.
    Tan nahm den Bericht und las vor: »Am fünfzehnten des Monats wurde hundertfünfzig Meter oberhalb der Drachenschlundbrücke um 16.00 Uhr eine männliche Leiche gefunden. Das unbekannte Opfer trug einen Kaschmirpullover und teure westliche Bluejeans. Schwarze Körperbehaarung. Zwei Operationsnarben am Unterleib. Darüber hinaus keine weiteren eindeutigen Kennzeichen. Das Opfer ist bei Nacht einen gefährlichen Grat emporgestiegen und hat ein plötzliches Trauma im Nacken erlitten. Keine direkten Hinweise auf die Beteiligung dritter Personen. Da in der Region niemand als vermißt gemeldet wurde, stammte das Opfer wahrscheinlich nicht aus der Umgegend und war eventuell ausländischer Herkunft. Beiliegend der medizinische Bericht und die Aussage des Sicherheitsoffiziers.«
    Er blätterte um. »Mögliche Erklärungen für die Ursache der Verletzung. Erstes Szenario. Opfer ist in der Dunkelheit auf den Felsen gestolpert und auf rasiermesserscharfen Quarz gefallen, dessen geologisches Vorkommen in der Region bekannt ist. Zweitens. Ist auf Werkzeug gestürzt, das von der Baubrigade vergessen wurde. Drittens. War nicht an Hochgebirgsluft gewöhnt, hat plötzlichen Anfall von Höhenkrankheit erlitten, ist ohnmächtig geworden und hat sich Verletzungen zugezogen, wie unter Punkt eins oder zwei beschrieben.« Tan hielt inne. »Kein Meteorit? Der Meteorit hat mir gefallen. Der hatte so einen gewissen buddhistischen Beigeschmack von Vorherbestimmung aus einer anderen Welt.«
    Er faltete erneut die Hände. »Du hast es versäumt, mir Schlußfolgerungen zu liefern. Du hast es versäumt, das Opfer zu identifizieren. Du hast es versäumt, mir einen Bericht vorzulegen, den ich unterschreiben kann.«
    »Das Opfer zu identifizieren?«
    »Es ist ein wenig peinlich, Fremde im Leichenschauhaus liegen zu haben. Man könnte das fälschlich für eine Nachlässigkeit halten.«
    »Aber genau aus diesem Grund dürfte das Ministerium Ihnen keine Scherereien bereiten. Man kann Ihnen doch nicht vorwerfen, daß seine Familie sich nicht meldet.«
    »Eine wie auch immer geartete Identifizierung würde weniger Aufmerksamkeit erregen. Und wenn schon kein Name, dann ein Anlaß.«
    »Ein Anlaß?«
    »Ein Beruf. Eine Adresse. Zumindest ein Grund für seine Anwesenheit. Madame Ko hat die amerikanische Firma angerufen, von der die Karte stammt. Diese Leute verkaufen Röntgengeräte. Sagen wir also, er hat Röntgenapparate verkauft.«
    Shan schaute auf seine Hände. »Das ist alles nur Spekulation.«
    »Für manche ist es Spekulation, für andere eine Meinung.«
    Shan blickte hinaus auf die Schatten, die sich langsam über die Hänge der Drachenklauen legten. »Falls ich Ihnen ein perfektes Szenario liefern könnte«, sagte er langsam und verachtete sich selbst mit jedem Wort mehr, »das auch dem Ministerium gefallen würde, dürfte ich dann zurück zu meiner Einheit?«
    »Das hier ist kein Tauschhandel.« Oberst Tan dachte eine Weile nach und zuckte dann die Achseln. »Ich hatte keine Ahnung, daß Zwangsarbeit süchtig macht. Es wird mir ein Vergnügen sein, dich wieder dem Direktor zu überlassen, Genosse Häftling.«
    »Der Mann war ein Kapitalist aus Taiwan.«
    »Kein Amerikaner?«
    Shan erwiderte Tans Blick. »Wie wird das Büro für Öffentliche Sicherheit Ihrer Meinung nach wohl auf das Wort Amerikaner reagieren?«
    Tan hob eine Augenbraue und nickte beipflichtend.
    »Also ein Taiwanese«, sagte Shan. »Das wird nicht nur das Geld und die Kleidung erklären, sondern auch, warum er reisen konnte, ohne bemerkt zu werden. Sagen wir mal, es handelt sich um einen früheren Kuomintang-Soldaten, der hier eingesetzt war und aus sentimentalen Gründen zurückgekehrt ist. Er ist mit

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