Der fremde Tibeter
in unser Geheimnis einzuweihen. Es ist unsere Pflicht, nichts davon zu erzählen. Es reicht aus, wenn sie wissen, daß das Kloster Nambe lebt und sie zu diesem Überleben beitragen, indem sie Trinle helfen.«
Shan nickte, als Choje seinen Verdacht bestätigte. »Ich verstehe jetzt, warum Trinle gehen mußte und weshalb der Pfeilzauber schließlich zu funktionieren schien. Ihr mußtet sicherstellen, daß das Vorgehen der Kriecher publik wird. Ein solches Wunder würde mit Sicherheit öffentliches Aufsehen erregen, sobald die Kunde davon sich verbreitete.«
Choje blickte auf seine Hände hinab. »Wir hatten Bedenken, Trinle und ich, daß unser Vorgehen vielleicht eine Lüge war.«
»Nein«, versicherte Shan ihm. »Es war keine Lüge. Ihr habt tatsächlich ein Wunder bewirkt, Rinpoche.«
Das heitere Lächeln kehrte auf Chojes Miene zurück.
»Du weißt, daß die Welt glauben wird, all dies wäre geschehen, um eine einzige Seele zu retten«, sagte Shan.
»Die Seele eines chinesischen Anklägers. Das ist gar keine so schlechte Lektion, Xiao Shan.«
Einhundertachtzig Mönche begehen Selbstmord, um die Seele ihres Anklägers zu retten, dachte Shan. Überall sonst wäre dies der Stoff, aus dem legenden entstehen. Aber hier war es bloß ein ganz gewöhnlicher Tag in Tibet.
»Doch du und ich wissen, daß dies nicht der wahre Grund ist.«
Choje wölbte die Hände, so daß die Fingerspitzen sich berührten. Das mudra gehörte zu den Opferzeichen; es hieß Schatzkästchen. Choje musterte es mit zurückhaltendem Lächeln und streckte die Hände dann Shan entgegen. Schweigend kam Shan der Bitte des Abtes nach und formte mit den eigenen Händen das gleiche mudra. Choje vollführte eine Geste, als würde er den Inhalt seiner Hände in das von Shan geformte Behältnis gießen, zog die Finger dann langsam auseinander und ließ Shan mit dem Kästchen zurück.
»So«, sagte er. »Der Schatz gehört jetzt dir.«
Shan spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. »Nein«, flüsterte er in schwachem Protest und schloß fest die Augen, um gegen die Traurigkeit anzukämpfen. Nach deinem Tod wird man die Straße trotzdem weiterbauen, wollte er sagen. Doch er kannte Chojes Antwort. Es spielte keine Rolle, solange Choje und das Kloster Nambe nur aufrichtig gewesen waren.
»Das Donnerritual ist ebenfalls ein Teil von Nambes Pflichten, nicht wahr?«
Choje nickte beifällig. »Deine Augen haben schon immer sehr weit geblickt, mein Freund. Als man das Gelübde ablegte, den gomchen zu beschützen, war Nambe bereits viele Jahrhunderte alt. Es war das Zentrum des Rituals und hatte das Verfahren vervollkommnet. Damit ein Sterblicher den Donner hervorrufen kann, bedarf es einer sehr tiefen Ausgeglichenheit, des höchsten Zustands der Meditation. Manche behaupten, das sei der Grund dafür gewesen, daß man uns die Ehre erwies, Yerpas Schutz übernehmen zu dürfen.«
»Trinle und Gendun sind Meister dieses Rituals.«
Choje lächelte nur.
Sie verweilten schweigend und lauschten den Mantras, die von draußen hereindrangen, nachdem die Mönche ihre Mahlzeit beendet hatten.
»Du bist mit einem bestimmten Anliegen hergekommen«, sagte Choje schließlich.
»Ja. Ich muß mit Trinle sprechen. Über jene Nacht. Ich weiß, daß er ohne deine Erlaubnis nichts sagen wird.«
Choje dachte über diese Bitte nach. »Du verlangst sehr viel.«
»Es besteht noch immer eine Chance, Rinpoche. Eine Chance, sowohl Nambe als auch Yerpa zu retten. Du mußt mich die Wahrheit finden lassen.«
»Alles hat irgendwann ein Ende, Xiao Shan.«
»Falls das Ende wirklich unabwendbar ist«, sagte Shan, »dann laß es im Licht enden, nicht im Schatten.«
»Weißt du, man würde ihnen Drogen verabreichen, falls man Trinle oder Gendun in die Finger bekäme. Diese Drogen sind wie Zaubersprüche. Die beiden könnten nichts tun, um sich den Fragen zu widersetzen, und das wissen sie auch. Falls die Soldaten versuchen, sie zu ergreifen, werden Trinle und Gendun sich für den Tod entscheiden. Kannst du diese Last tragen?«
»Falls die Soldaten versuchen, Sie zu ergreifen«, erwiderte Shan sogleich, »werde auch ich mich für den Tod entscheiden.« Wenn die Kriecher hinter dir her waren, stellte der Tod kein größeres Problem dar. Falls du wegliefst, würden sie schießen. Falls du auf sie zuliefst, würden sie schießen. Falls du Widerstand leistetest, würden sie schießen.
Er bemerkte, daß Choje ihn anlächelte, und sah nach unten. Shans Hände formten noch immer das
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