Der fremde Tibeter
Er wird oft unterschätzt.«
»Ich unterschätze ihn nicht. Nicht in diesem Fall. Für ihn ist die 404te kein Gefängnis. Er kommt und geht, um die Angelegenheiten von Nambe gompa zu regeln. Er kommt und geht mit den purbas. Niemand sonst könnte das für ihn tun.«
»Und wie sollten wir diesen Zauber bewerkstelligen?«
»Ich weiß es nicht genau. Aber es dürfte nicht allzu schwierig sein, solange am Ende die Anzahl der Häftlinge stimmt.«
Der purba verzog das Gesicht. »Den Platz eines Gefangenen einzunehmen, wäre äußerst leichtsinnig. Man würde die sofortige Hinrichtung riskieren.«
»Aus diesem Grund nehmen ja auch nur die purbas dieses Risiko auf sich.«
Der Mann reagierte nicht.
»Trinle ist häufiger krank als die meisten anderen«, sagte Shan. »Wir haben uns inzwischen daran gewöhnt. Manchmal zieht er sich die Decke über den Kopf und bleibt im Bett liegen. Jetzt weiß ich auch den Grund dafür. Weil es sich gar nicht um ihn handelt. Ich kann mir schon denken, wie es gemacht wird. An verabredeten Tagen helfen einige purbas bei der Nahrungsausgabe, wenn die Wohlfahrtsorganisation das Essen bringt. Einer der Männer trägt unter seiner Zivilkleidung die Montur eines Häftlings. Wenn Trinle die Ausgabe erreicht, wird irgendwie für Ablenkung gesorgt. Vielleicht duckt er sich unter die Tische und zieht die Zivilkleidung an. Der purba tauscht mit ihm die Plätze und bleibt in der 404ten, bis Trinle zurückkommt. Die Wachposten sind nicht wählerisch. Sie kennen nicht alle Gesichter. Solange die Anzahl sich nicht verändert, wie sollte es da eine Flucht geben? Und solange er sein Gesicht verbirgt, wie sollten die anderen Häftlinge da Verdacht schöpfen?«
Der purba starrte Shan an. »Was genau willst du?«
»Ich muß durch die Todeszone. Heute noch.«
»Es ist sehr gefährlich. Jemand könnte getötet werden.«
»Jemand ist bereits getötet worden. Wie viele müssen noch umkommen?«
Der purba ließ den Blick über den Marktplatz schweifen, als würde er dort nach der Antwort suchen. »Kohlköpfe«, sagte er plötzlich. »Halte nach Kohlköpfen Ausschau.« Dann bog er um eine Ecke und war verschwunden.
Als Feng zwanzig Minuten später durch den Stadtverkehr fuhr, kippte direkt vor ihnen ein Karren voller Kohlköpfe um. Feng legte den Rückwärtsgang ein, doch plötzlich blockierte sie von hinten ein zweiter Karren.
Shan sprang sofort aus dem Wagen. »Hören Sie genau zu, Sergeant. Gehen Sie zu Tan. Sagen Sie ihm, er muß mit Ihnen kommen. Zur 404ten. Wir drei treffen uns dort in zwei Stunden am Zaun.« Er wandte sich ab, ignorierte Fengs schwachen Protest und verschwand in der Menge.
Eine Stunde darauf befand er sich auf dem Gelände der 404ten, trug eine übergroße Wollmütze und die Armbinde der Wohlfahrtsorganisation und teilte Näpfe mit Gerstenbrei aus. Als ungefähr die Hälfte der Warteschlange an ihm vorübergezogen war, ließ jemand einem der Wachposten einen Eimer Wasser auf den Fuß fallen. Der Wachsoldat schrie. Der Tibeter, der den Eimer getragen hatte, fiel hin und stieß dabei einen der Häftlinge um. Weitere Wachen liefen herbei, um der Ursache für den Tumult auf den Grund zu gehen.
In dem folgenden Durcheinander duckte Shan sich unter das hintere Ende des langen Tisches, über das man ein schmutziges Stück Filz gehängt hatte, zog seine Jacke aus und stellte sich in die Warteschlange. Die Sträflingskleidung, die er trug, hatten die purbas ihm gegeben.
Choje war nicht beim Essen. Shan fand ihn meditierend in seiner Hütte und setzte sich vor ihn hin. Chojes Augen öffneten sich, und er legte Shan eine Hand auf die Wange, als wolle er sich vergewissern, daß er echt war. »Ich freue mich, dich zu sehen, aber du hast dir für deine Rückkehr einen unglücklichen Zeitpunkt ausgesucht.«
»Ich mußte mit dem Abt vom Kloster Nambe sprechen.«
»Nambe wurde zerstört.«
»Seine Gebäude wurden zerstört. Seine Bewohner wurden eingesperrt. Doch das gompa lebt.«
Choje zuckte die Achseln. »Wir konnten nicht zulassen, daß es stirbt.«
»Wegen des Versprechens, das ihr dem Zweiten Dalai Lama im Hinblick auf Yerpa gegeben habt.«
Choje wirkte nicht überrascht. »Es ist mehr als ein Versprechen. Eine heilige Pflicht.« Seine Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. »Es ist wundervoll, nicht wahr?«
»Wissen die purbas davon, Rinpoche?«
Choje schüttelte den Kopf. »Die purbas wollen allen Gefangenen helfen. Sie tun das Richtige. Aber es war nie erforderlich, sie
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