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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Seele vernichtet«, fügte er mit kalter Gewißheit hinzu. »Dabei weiß ich nicht einmal den Grund dafür.«
    »Sie haben es getan, um Sungpo zu helfen. Und Sie haben es getan, um Dilgo Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie haben es für die Wahrheit getan.« Er hatte Yeshe nichts von der Gebetskette aus Koralle erzählt, die ihm in Lhasa im Museum aufgefallen war. Es handelte sich um ein Duplikat von Dilgos Rosenkranz, das man dem Mordopfer zweifellos untergeschoben hatte, um Dilgo in den Fall zu verwickeln und Yeshe zu einer unbewußten Lüge zu verleiten. Es war ohne Belang, ob Yeshe von Shans Entdeckung erfuhr oder nicht, denn in seinem Herzen hatte er den Betrug schon vor langer Zeit erkannt.
    »Ihre verdammte Gerechtigkeit«, stöhnte er. »Warum habe ich Ihnen nur geglaubt?« Er schien kleiner zu werden, schrumpfte vor Shans Augen zusammen. »Vielleicht ist es wahr«, sagte Yeshe und schien zu einem Schluß zu gelangen, der ihn entsetzte. »Vielleicht haben Sie tatsächlich Tamdin beschworen. Vielleicht ist er schon die ganze Zeit um uns herumgeschlichen. Vielleicht hat er Sie dazu benutzt, um Rücksichtslosigkeit zu säen. Auf seiner Suche nach Wahrheit macht er alles dem Erdboden gleich und verwüstet sogar die Seelen.«
    »Sie können in Ihr gompa zurückkehren. Sie möchten wieder Priester sein, das haben Sie mir anschaulich bewiesen. Dort wird man Ihnen helfen.«
    Yeshe ging zur hinteren Wand und lehnte sich dagegen. Als er aufblickte, wirkte er so ausgemergelt, daß Shan den Eindruck bekam, das Fleisch auf seinen Knochen hätte sich zusammengezogen. Er war noch immer leichenblaß. Das da vor Shan war nicht mehr Yeshe, sondern nur noch ein Schatten. »Man wird mich anspucken. Man wird mich aus den Tempeln vertreiben. Jetzt kann ich niemals mehr zurückkehren. Und nach Sichuan kann ich auch nicht gehen, denn ich kann keiner von denen mehr sein. Ich will kein guter Chinese sein«, sagte er. »Auch das haben Sie mir zerstört.« Er musterte Shan mit gequältem Blick. »Was haben Sie mir angetan? Ich habe die Viererwahl getroffen. Ich hätte ebensogut von einer Klippe springen können.« Gebt ihm einen Knochen, hatten die Mönche gesagt. »Alles umsonst.«
    Langsam rutschte er an der Wand entlang zu Boden. Tränen rannen über seine Wangen. Er nahm seinen Rosenkranz und zerriß ihn. Die Perlen fielen langsam zu Boden und rollten auseinander.
    Shan war wie betäubt und fühlte sich völlig hilflos. Er goß Wasser in eine Teetasse und reichte sie Yeshe. Sie rutschte durch Yeshes Finger und zerbrach auf dem Boden. Shan suchte verzweifelt nach tröstenden Worten und fing an, die Porzellanstücke aufzusammeln. Plötzlich hielt er inne und ging in die Knie. Er starrte auf die Scherben in seinen Händen.
    »Nein!« rief er aufgeregt. »Je hat uns genau das mitgeteilt, was wir wissen mußten. Schauen Sie nur!« sagte er, packte Yeshes Schulter und hielt eine Scherbe empor. »Sehen Sie, was ich meine?«
    Doch Yeshe nahm ihn nicht mehr wahr. Wenngleich es ihm in der Seele weh tat, so stand Shan doch auf, warf Yeshe einen letzten schmerzlichen Blick zu und rannte aus dem Gebäude.
    Als Sergeant Feng und Shan am Marktplatz eintrafen, machte Feng keine Anstalten, den Wagen zu verlassen. Shan ging auf direktem Weg zum Laden der Heilerin, doch er betrat Khordas Hütte nicht, sondern stellte sich in die benachbarte Gasse. Ein Junge in einer Hirtenweste erschien neben ihm, raunte ihm eindringlich zu, er solle dort warten, und kehrte wenig später mit dem narbengesichtigen purba zurück.
    »Du brauchst nicht zum Berg zu gehen«, sagte Shan. »Du brauchst dich nicht zu opfern. Ich habe eine andere Möglichkeit gefunden.«
    Der purba sah ihn skeptisch an.
    »Ich muß heute mit dem Essen bei der 404ten hereinkommen«, sagte Shan.
    »Wir sind nicht diejenigen, die das Essen liefern. Das ist Sache der Wohlfahrtsorganisation.«
    »Aber manchmal geht ihr mit ihnen. Es bleibt keine Zeit für Spielchen. Ich weiß jetzt, was vor sich geht. Manchmal laßt ihr jemanden dort zurück.«
    »Ich verstehe nicht, was du meinst«, erwiderte der purba zugeknöpft.
    »Das Lager der 404ten ist auf felsigem Untergrund errichtet. Es gibt keinen Tunnel. Es gibt auch kein Loch im Zaun. Und niemand fliegt wie ein Pfeil durch die Luft.«
    Der purba schaute wachsam über Shans Schulter hinweg zum Marktplatz. »Hast du deine Untersuchung abgeschlossen?«
    »Ich habe Trinle gesehen, und zwar nicht bei der 404ten.«
    »Trinle ist ein sehr heiliger Mann.

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