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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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und folgte ihm.
    »Falls es eine Krankheit ist, sollten wir ihn in die Klinik bringen«, sagte Shan leise. »Falls es aber nur ein natürliches Hinscheiden... «
    »Was meinen Sie mit natürlich?« fragte Dr. Sung.
    Shan blickte nach draußen und durch den Stacheldraht auf das langgestreckte Gebäude, in dem Sungpo saß. »Ich schätze, das weiß ich nicht mehr.«
    »Falls ich einige Tests durchführen könnte«, schlug Sung vor, »dann wäre es vielleicht... «
    Sie wurde durch einen entsetzten Aufschrei unterbrochen. Beide wirbelten herum. Die Priester sprangen auf. Der alte Abt prügelte mit einer Zeremonienglocke auf Yeshes Kopf ein.
    Yeshe stand mit tränenüberströmtem Gesicht über die Trage gebeugt. Er hatte Je die Injektion verabreicht.
    Alle riefen wild durcheinander. Jemand verlangte, den Namen von Yeshes Abt zu erfahren. Ein anderer packte sein rotes Hemd und riß es ihm herunter. Plötzlich hob sich Jes Arm, und alle verstummten.
    Der Arm ragte senkrecht nach oben, und die Hand beschrieb eine langsame, unheimliche Kreisbewegung, als würde sie nach etwas tasten, das knapp außerhalb ihrer Reichweite lag.
    Shan eilte an Jes Seite und wischte ihm mit einem feuchten Tuch die Stirn ab. Die Lider des alten Mannes zitterten; dann schlug er die Augen auf. Er starrte zum Zeltdach empor, hielt sich die ausgestreckte Hand vor das Gesicht und musterte sie, während er wie in Zeitlupe die Finger bewegte, als wären es die Flügel eines Schmetterlings in der Kälte. Er wandte den Kopf, tastete nach Shans Gesicht und kniff die Augen zusammen, als könne er ihn nur undeutlich erkennen. »Auf welcher Ebene befinde ich mich?« flüsterte er mit trocken krächzender Stimme.
    »Rinpoche«, drängte Yeshe. »Sie waren der Tamdin-Tänzer von Saskya und haben bis vor einem Jahr das Kostüm aufbewahrt. Wer hat es Ihnen weggenommen? Haben Sie jemanden im Gebrauch des Kostüms unterwiesen? Wer war es? Wir müssen wissen, wer das Kostüm genommen hat.«
    Je stieß ein heiseres Lachen aus. »Ich habe Leute wie dich an jenem anderen Ort gekannt«, krächzte er.
    »Rinpoche. Bitte. Wer war es?«
    Seine Lider erzitterten abermals und schlossen sich. Da war ein neues Geräusch, ein Rasseln in seiner Brust. Die Umstehenden verharrten einige Minuten lang in qualvollem Schweigen.
    Dann öffneten sich seine Augen wieder, diesmal sehr weit. »Letzten Endes«, sagte er langsam, als würde er gleichzeitig auf etwas lauschen, »bedarf es lediglich eines einzigen makellosen Tons.« Jedes Wort wurde von dem pfeifenden Rasseln begleitet. Dann schloß er die Augen, und das Rasseln hörte auf.
    »Er ist tot«, verkündete Dr. Sung.

Kapitel 19
    Yeshe starrte den Körper mit abgrundtiefer Verzweiflung an. Die Augen des alten Mannes am Fuß der Trage flossen vor Tränen über. Eine Stimme im Hintergrund rezitierte laut ein tibetisches Totengedicht. Der Priester, der die Bardo-Zeremonie durchgeführt hatte, begann mit kalter Wut zu sprechen und stimmte eine finstere Litanei an, die Shan noch nie zuvor gehört hatte. Sein zorniger Blick war auf Yeshe gerichtet, und er sprach immer schneller und lauter. Yeshe schaute stumm zu ihm herüber. Aus seinem Gesicht war sämtliche Farbe gewichen.
    Shan zog an Yeshes Arm, doch der Tibeter schien nicht in der Lage zu sein, sich zu bewegen. Der Abt durchwühlte mit tränenüberströmtem Gesicht hektisch das Haar an Jes Scheitel. Bei korrekter Durchführung der Zeremonie wäre Jes Seele durch ein winziges Loch entwichen, das nach dem Glauben der Mönche jeder Mensch am Scheitelpunkt des Kopfes besaß.
    »Gebt ihm einen Knochen!« brüllte jemand von hinten.
    »Sein Name ist Yeshe!« rief ein anderer. »Aus dem Kloster Khartok.«
    Shan lehnte sich gegen Yeshe und schob ihn aus der Jurte. Yeshe wirkte auf einmal schwach und leblos. Shan nahm seine Hand und führte ihn zum Arrestlokal. In seiner Zelle hatte Sungpo inzwischen einen Sprechgesang angestimmt, ein neues Mantra, ein trauriges Mantra. Irgendwie wußte er es.
    »Es spielt keine Rolle«, sagte Shan zu Yeshe, nicht weil er das tatsächlich glaubte, sondern weil er es nicht ertragen konnte, daß auch Yeshe nun zum Opfer wurde.
    »Es spielt eine gewaltige Rolle.« Yeshe zitterte. Er betrat eine leere Zelle und packte die Gitterstäbe, um sich zu stützen. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck der Angst, wie Shan ihn noch nie gesehen hatte. »Was ich getan habe... es hat den Moment seines Übergangs zerstört. Ich habe seine Seele vernichtet. Und ich habe meine

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