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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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hoffen.«
    »Manchmal mache ich mir Sorgen um dich«, sagte Choje. »Ich fürchte, daß du zu sehr nach Antworten suchst.«
    Shan nickte traurig. »Ich weiß nicht, wie man nicht danach suchen kann.«
    Choje seufzte. »Sie haben einen Lama verhaftet«, sagte er. »Einen Einsiedler aus dem Kloster Saskya.«
    Shan hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich zu fragen, auf welche Weise Informationen sich innerhalb der tibetischen Bevölkerung und über Gefängnismauern hinweg verbreiteten. Es war beinahe so, als würden die Tibeter eine geheime Form der Telepathie praktizieren.
    »Ist dieser Lama der Täter?« fragte Choje.
    »Du glaubst, ein Lama wäre zu einer solchen Tat fähig?«
    »Jeder Geist kann einen Fehltritt tun. Buddha persönlich mußte gegen zahllose Versuchungen ankämpfen, bis er schließlich die Verwandlung erfuhr.«
    »Ich habe diesen Lama gesehen«, sagte Shan ernst. »Ich habe ihm ins Gesicht geschaut. Er hat es nicht getan.«
    »Ah«, seufzte Choje und verstummte. »Ich verstehe«, sagte er nach einer ganzen Weile. »Du mußt die Freilassung dieses Lama erreichen, indem du beweist, daß der Mord von dem Dämon Tamdin begangen wurde.«
    »Ja«, gab Shan mit leiser Stimme schließlich zu und sah in seine Hände.
    Die beiden Männer saßen schweigend da. Vor irgendwo außerhalb der Hütte war ein langes geisterhaftes Stöhnen zu vernehmen, als leide jemand unsägliche Schmerzen.
    Yeshe weigerte sich, als Shan ihm am nächsten Morgen seine Aufgabe erklärte. »Allein die Frage nach einem Zauberer könnte mich hinter Gitter bringen«, klagte er.
    Feng fuhr sie durch die niedrigen Hügelgebiete und Heideflächen, die den Weg in die Stadt säumten. Eine gewundene Reihe von Weiden und hohen Riedgräsern markierte den Verlauf des Flusses, der nach den zahlreichen Kaskaden im Drachenschlund nun mit etwas gemächlicherer Geschwindigkeit durch das Tal floß. Sie passierten eine Stelle, an der Bulldozer einen Hügel eingeebnet hatten, damit einige Reihen inzwischen absterbender Gewächse angepflanzt werden konnten Wind und Trockenheit hatten die Pflanzen dermaßen gebeugt und verdreht, daß man nicht mehr zu erkennen vermochte, worum es sich handelte. Ein weiterer fehlgeschlagener Versuch, etwas von außerhalb hier Wurzeln schlagen zu lassen, das Tibet weder brauchte noch wollte.
    »Wofür hat man Sie bestraft?« fragte Shan den Tibeter. »Weshalb wurden Sie zu Zwangsarbeit verurteilt?«
    Yeshe antwortete nicht.
    »Warum haben Sie nach wie vor Angst vor ihnen? Man hat Sie doch freigelassen.«
    »Jeder geistig gesunde Mensch hat Angst vor ihnen.« Yeshe grinste anzüglich.
    »Es geht um Ihre Reisepapiere, nicht wahr? Sie glauben, Sie werden sie nicht bekommen, falls Sie mit mir zusammenarbeiten Ohne neue Reisepapiere werden Sie niemals aus Tibet herauskommen, nie eine standesgemäße Anstellung in Sichuan erhalten und sich nie Ihren neuen Fernsehapparat kaufen können.«
    Yeshe schien sich über diese Vorhaltungen zu ärgern, aber er stritt sie nicht ab. »Es ist falsch, diese Leute, die Zauberformeln benutzen, auch noch zu bestärken«, sagte er. »Sie sorgen dafür, daß Tibet einem früheren Jahrhundert verhaftet bleibt. So wird es für uns ganz bestimmt keinen Fortschritt geben.«
    Shan starrte Yeshe an, sagte jedoch nichts. Yeshe rutschte auf seinem Sitz herum und schaute mißmutig zum Fenster hinaus. Auf der Straße ging eine Frau, die sich in einen großen Filzumhang gewickelt hatte, und führte an einem Seil eine Ziege hinter sich her.
    »Soll ich Ihnen sagen, woraus die Geschichte Tibets bestanden hat?« fragte Yeshe mürrisch und schaute dabei weiterhin aus dem Fenster. »Aus einem einzigen langen Machtkampf zwischen Priestern und Zauberern. Die Geistlichen verlangen, daß wir nach Vollkommenheit streben. Doch der Weg zur Vollkommenheit ist sehr lang. Die Zauberer bieten Abkürzungen an. Sie ziehen ihre Macht aus der Schwäche des Volkes, und das Volk ist ihnen auch noch dankbar dafür. Manchmal sitzen die Priester am Ruder und errichten ihr Ideal. Dann wieder herrschen die Zauberer und ruinieren das Ideal, obgleich sie vorgeben, in dessen Namen zu handeln.«
    »Darum geht es also in Tibet?«
    »Das ist der Antrieb der Gesellschaft. In China ist es das gleiche, denn ihr habt auch eure Zauberer. Nur daß ihr sie Sekretär Sowieso und Minister Irgendwas nennt. Mit einem kleinen roten Zauberbuch, verfaßt vom Vorsitzenden persönlich. Dem Oberzauberer.«
    Auf einmal blickte Yeshe bestürzt auf, denn ihm

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