Der fremde Tibeter
Zusammentreffen in Oberst Tans Büro. »Genosse Shan!« rief er mit geheuchelter Begeisterung. »Es heißt doch Shan, nicht wahr? Sie haben sich neulich nicht formell vorgestellt. Sehr schlau.« Der Mann auf dem Sessel regte sich, warf blinzelnd einen kurzen Blick auf Shan, streckte sich und schloß wieder die Augen.
Hinter Li war eine Gruppe tibetischer Frauen soeben damit beschäftigt, die Wände und den Boden abzuwaschen. »Sie säubern dieses Haus, bevor die Ermittlungen vollständig durchgeführt sind?« fragte Shan ungläubig.
»Kein Grund zur Sorge. Alles bereits durchsucht. Nichts gefunden.«
»Manchmal sind Beweise nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Papiere. Fingerabdrücke.«
Li nickte, als würde er Shan nachsichtig belehren müssen. »Aber das Verbrechen wurde doch gar nicht hier verübt. Und das Haus gehört dem Ministerium. Man darf es nicht leerstehend lassen.«
»Was ist, wenn der Mörder etwas Bestimmtes haben wollte? Was ist, wenn er hierher zurückgekommen ist und das Haus durchsucht hat?«
Li breitete die Arme aus. »Es hat nichts gefehlt«, sagte er. »Und wir wissen bereits über die Bewegungen des Mörders Bescheid. Von der Südklaue zur Höhle. Von der Höhle zurück zu seinem Kloster.« Er hob die Hand, um weitere Diskussionsversuche abzuwehren, und rief dann dem Mann auf dem Sessel etwas zu. Der Mann regte sich erneut und reichte Li eine Mappe, die dieser an Shan weitergab. »Ich habe mir die Freiheit erlaubt, Jaos Arbeitsplan zusammenzustellen. Die Komitees, denen er angehört hat. Einzelheiten der Verhandlung, in deren Verlauf der Verdächtige Sungpo als einer der Fünf von Lhadrung zu einer Haftstrafe verurteilt wurde.«
»Ich dachte, wir würden mit seiner Sekretärin sprechen.«
»Hervorragende Idee«, erwiderte Li und zuckte die Achseln. »Aber sie nimmt ihren Urlaub immer gleichzeitig mit Jao. Sie ist in Hongkong und in derselben Nacht wie Jao abgereist. Ich habe sie selbst zum Flughafen gebracht.«
Draußen blieb Shan neben dem Wagen stehen und sah ungläubig dabei zu, wie die Putzkolonne anfing, auch die Außenwände des Hauses mit einem Schlauch abzuspritzen.
»Kleine Vögel singen laut«, sagte Feng belustigt, als er sich hinter das Steuer setzte.
Plötzlich fiel es Shan wieder ein. Die einzige Person, der er davon erzählt hatte, daß er zum Haus und zum Restaurant gehen würde, war Yeshe.
Als Dr. Sung in der Eingangshalle der Klinik auftauchte, trug sie einen Operationskittel und blutige Handschuhe. Um ihren Hals hing eine koujiao-Maske. »Sie schon wieder?«
»Sie klingen enttäuscht«, sagte Shan.
»Die Schwester hat gesagt, da seien zwei Männer mit Fragen über Ankläger Jao. Ich dachte, es wären die anderen.«
»Die anderen?«
»Der stellvertretende Ankläger. Sie beide sollten eine Dialektik in Erwägung ziehen.«
»Wie bitte?«
»Miteinander reden. Machen Sie Ihre Arbeit richtig, damit ich bei meiner nicht unnötig behindert werde.«
Shan biß die Zähne zusammen. »Demnach ist Li Aidang hier gewesen und hat Fragen über die Leiche gestellt?«
Shans Unbehagen schien Sung zu gefallen. »Nicht nur über die Leiche, sondern auch über Sie und Ihre Begleiter«, erwiderte sie und warf einen kurzen Blick auf Feng, der am anderen Ende der Halle wartete. »Li hat die Liste der persönlichen Besitztümer mitgenommen. Sie, Genosse, haben gar nicht erst danach gefragt.«
»Tut mir leid«, entgegnete Shan, ohne zu wissen warum.
Doktor Sung streifte die Handschuhe ab. »Ich habe in einer Viertelstunde die nächste Operation.« Sie drehte sich um und ging den Flur hinunter.
»Der Oberst hat den Kopf herschicken lassen«, sagte Shan zu ihrem Rücken und folgte ihr.
»Was für eine entzückende Geste, habe ich gedacht«, sagte sie mit beißendem Sarkasmus. »Man hätte mich ja auch vorwarnen können. Hoppla, einfach so aus der Tüte. Hallo, Genosse Ankläger.«
Die Ärztin hatte doch sicherlich gewußt, womit man bei Tan rechnen mußte, dachte Shan. Dann begriff er. »Soll das heißen, Sie haben ihn gekannt?« »Es ist eine kleine Stadt. Selbstverständlich habe ich Jao gekannt. Wir haben uns letzte Woche voneinander verabschiedet, weil er in Urlaub fahren wollte. Dann packe ich das Päckchen des Obersts aus, und plötzlich starrt er mir entgegen, als hätten wir noch eine Rechnung zu begleichen.«
»Und wie lauten Ihre Schlußfolgerungen?«
»Worüber?« Sie öffnete einen Schrank und musterte die beinahe leeren Fächer. »Na, großartig.« Sie zog die
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