Der fremde Tibeter
versehenen Steinen, einem jener Wälle, die im Verlauf vieler Jahrhunderte von frommen Besuchern und Pilgern errichtet worden waren. Jeder der Steine war einzeln und von weit her zum Ruhme Buddhas mitgebracht worden. Ein mani-Stein, so hieß es, führte das Gebet fort, wenn der Pilger wieder gegangen war. Shan schaute sie an, wie sie sich, so weit er blicken konnte, in den Wald erstreckten, die vermodernden, moosbedeckten Gebete vieler Generationen.
Trinle hatte einst heftige Prügel bezogen, weil er aus der Arbeitskolonne ausgeschert war, um einen solchen Stein aufzuheben, der oberhalb von ihnen herrenlos auf dem Hang lag. »Weshalb hast du die Schlagstöcke riskiert?« hatte Shan ihn gefragt, während Trinle das Moos abkratzte, um das Gebet freizulegen.
»Weil dies vielleicht das Gebet ist, das die Welt verändert«, hatte Trinle fröhlich erwidert.
Shan wischte vorsichtig sechs der Gebetssteine sauber, legte drei davon in einer Reihe aus, darauf dann die nächsten zwei und den letzten als oberste und dritte Schicht. Der Anfang eines neuen Walls.
Er ignorierte Fengs finsteren Blick und ging vor dem langsam fahrenden Wagen den Weg entlang. Der Klang der tsingha schwebte wieder durch die Luft, und eine hohe Mauer kam in Sicht. Die Risse, die Fugen und die scheckige Bemalung der Wand zeugten von schweren Prüfungen und Überlebenskämpfen. Die Mauer war öfter beschädigt, wiederaufgebaut und geflickt worden, als Shan ermessen konnte. Die unebene Oberfläche, die teils aus Stuck und Mörtel, teils aus blankem Fels bestand, war mit einem halben Dutzend weißer und gelbbrauner Flecken übermalt worden.
Zu beiden Seiten der Wand türmten sich Ruinen auf, zerklüftete Steinhaufen, die von Kletterpflanzen überwuchert waren, sowie geborstene und verkohlte Balken, auf denen Flechten und Moose wuchsen. Er erkannte, daß die Wand früher einmal den Innenhof eines weitaus größeren gompa begrenzt hatte. Das Tor stand offen und hing schief in den Angeln. Es waren mehrere Novizen zu sehen, die den Hof fegten. Ihre Besen bestanden aus langen Stöcken, an die man Binsen gebunden hatte.
Shan musterte die Szenerie mit ungeahnter Freude. Die Gebäude waren ihm aus den mündlichen Überlieferungen der 404ten vertraut, aber nichts hatte ihn auf die umfassende, kraftvolle Präsenz eines bewohnten gompa vorbereitet.
In der Mitte des Hofs stand ein riesiger Bronzekessel, der so verbeult und abgenutzt war, daß das darauf befindliche Antlitz Buddhas wie das Gesicht eines narbigen Kriegers aussah. Zwei Mönche waren eifrig damit beschäftigt, das Gefäß zu polieren.
Es handelte sich um eines der größten Räucherfässer, die Shan je gesehen hatte. Schwelender Wacholder stieg in dünnen Schwaden daraus hervor.
Einige niedrige Gebäude verliefen entlang der Wand zu beiden Seiten des Tors ungefähr halb um den Hof herum. Dies waren die Unterkünfte der Mönche. Ihre Dächer hatte man aus sich teilweise überdeckenden, flachen Felsplatten gefertigt, und die Wände bestanden aus wiederverwerteten Steinen und Holzstücken. Das alles sah verdächtig nach einer amtlich unerlaubten Konstruktion aus. Was hatte Direktor Wen ihnen erzählt? Jao hatte den Aufbauantrag von Sungpos gompa abgelehnt und es dadurch von den offiziellen Materialquellen abgeschnitten.
Die anderen Gebäude wirkten genauso zusammengestückelt, aber irgendwie majestätischer. Links, am Ende einer kleinen Treppe und hinter einer Veranda aus dicken Balken befand sich die dukhang, die Versammlungshalle, in der die Mönche unterwiesen wurden. Rechts stand ein ähnliches Bauwerk, auf dessen überdachtem Vorbau eine mannshohe Gebetsmühle senkrecht emporragte. Ein Mönch drehte sie langsam, und jede Umdrehung vervollständigte das Gebet, das auf ihre Seitenfläche geschrieben war. Hinter der Mühle versperrte eine hellrot gestrichene Flügeltür den Zugang zur lhakang, der Halle der Hauptgottheit. Auf die Außenwand hatte man oberhalb der Halle ein kreisförmiges Mandala gemalt, das den heiligen Pfad repräsentierte, das Rad von Dharma. Links und rechts davon war je ein Reh abgebildet, um an Buddhas erste Predigt in Indien zu erinnern.
Zwischen den beiden Gebäuden stand auf einer quadratischen Grundplatte ein großer Chorten, ein kuppelförmiger Schrein aus Mörtel, auf dem mehrere Platten abnehmender Größe lagen. Über den Platten befand sich ein walzenförmiger Aufsatz mit einer konischen Spitze. Zum Loshar, dem Tag des Neujahrsfestes, hatte Trinle einst einen
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