Der fremde Tibeter
Entschuldigung an das Volk.
Shan zwang sich, die Augen zu öffnen, und erschauderte bei dem Gedanken an den letzten Mordprozeß, dem er beigewohnt hatte. Er zählte die Sterne. Er zwickte sich. Aber die Müdigkeit ließ ihn in das Stadion zurückkehren. Inzwischen herrschte Stille, und der Angeklagte kniete vor einem Offizier der Öffentlichen Sicherheit, In letzter Sekunde, als der Offizier dem Mann eine Kugel durch den Kopf jagte, wurde das Gesicht des Verurteilten zu dem von Sungpo. Die alte Frau stieg die Stufen empor und fing an, das Blut und Gewebe aufzuwischen.
Shan stöhnte auf und war sofort hellwach. Sein Herz raste wie wild. Er döste nicht wieder ein.
Irgendwann sehr viel später ergriff Sergeant Feng noch einmal das Wort. »Dieser Soldat, Meng. Er war zum Wachdienst vor der Höhle eingeteilt. Aber nicht in jener Nacht.«
»Sie haben gefragt?«
»Du hast doch gesagt, du müßtest es wissen. Vermutlich hat er den Dienst mit einem anderen getauscht. Das passiert andauernd, ohne daß die Einträge im Dienstplan entsprechend geändert werden.«
»Könnten wir mit ihm sprechen? Wenn wir wieder im Lager sind.«
»Keine Ahnung«, erwiderte Feng. Es war ihm unangenehm. »Ich bin der 404ten zugewiesen. Diese Offiziere im Lager Jadefrühling - ich weiß nicht. Die sind hart wie Tigerzähne«, murmelte er und beugte sich vor, als müßte er sich auf die Straße konzentrieren.
»Sergeant«, meldete Yeshe sich von der Rückbank. »Genosse Shan sagt, daß der Direktor mir etwas vormacht. Daß er beabsichtigt, mich wieder einzusperren, damit ich weiter an seinen Computern arbeite.«
Fengs einzige Reaktion war ein gezwungenes Glucksen.
»Stimmt das?«
»Wieso fragst du mich? Der Direktor und ich, wir leben nicht in der gleichen Welt. Woher soll ich das wissen?«
»Eben gerade haben Sie aber so gelacht, als würden Sie das glauben.«
»Ich glaube, daß Zhong ein gottverdammter Hurensohn ist. Das Volk bezahlt ihn dafür, ein Hurensohn zu sein. Er erörtert seine Pläne nicht mit den Sergeanten.«
»Aber Sie könnten es herausfinden. Fragen Sie die Belegschaft. Jeder spricht mit dem momo gyakpa.«
Feng trat auf die Bremse. »Was, zum Teufel, hast du da gerade gesagt?« herrschte er Yeshe auf einmal mürrisch an.
»Es tut mir leid. Nichts. Bloß, ob Sie fragen könnten. Vielleicht könnte ich im Gegenzug etwas für Sie tun.«
»Momo gyakpa? Fettkloß?« Er schien eher verbittert als wütend zu sein. »Ich habe diese Bezeichnung schon öfter gehört«, sagte er nach schmerzlichem Schweigen, inzwischen sehr viel ruhiger. »Hinter meinem Rücken. Fünfunddreißig Jahre in der Volksbefreiungsarmee, und das ist der Dank. Momo gyakpa.«
»Es tut mir leid«, murmelte Yeshe.
Aber Feng beachtete ihn nicht mehr. Er kurbelte die Scheibe herunter und griff in die Tüte mit Klößen, die ihnen als Frühstück und Mittagessen dienen sollten. »Momo.« Er nahm einen Kloß und zerquetschte ihn, als handle es sich um etwas, das er zu töten versuchte. Er warf ihn aus dem Fenster, dann noch einen und noch einen und immer so weiter, bei jeder langgezogenen Silbe. »Momo! Scheiße! Gyakpa!« schrie er mit qualvoll erstickter Stimme. Nach dem letzten momo starrte er reglos nach vorn. »Es gab Zeiten, da nannte man mich die Axt, weil ich alles und jeden mit bloßen Händen bezwingen konnte. Paßt auf, die Axt kommt, flüsterte man sich zu. Oberst Tan kann sich auch noch daran erinnern. Lauft, heute nacht ist die Axt unterwegs.«
Sobald es so hell war, daß man lesen konnte, griff Shan in den Leinenbeutel, den Madame Ko im Lager für ihn hinterlassen hatte. Drei Mappen, die Akten der Fälle, die zu der Exekution von drei der ehemals Fünf von Lhadrung geführt hatten. Lin Ziang, der Direktor für Religiöse Angelegenheiten, ermordet von dem kulturellen Unruhestifter Dilgo Gongsha. Xong De, Direktor der Minen vom Ministerium für Geologie im Bezirk Lhadrung, ermordet vom Feind des Volkes Rabjam Norbu. Jin San, Leiter des Landwirtschaftskollektivs, ermordet von Dza Namkhai, dem Anführer der berüchtigten Fünf von Lhadrung.
Er las fast eine Stunde in den Unterlagen. Im hinteren Teil jeder Akte hatte man Seiten herausgerissen. Zeugenaussagen.
Die Gipfel schienen in der Morgenröte zu schweben und eher Teil des Himmels als der dämmrigen Erde zu sein. Sind auf diesem Planeten nur diejenigen Leute religiös, die in der Nähe der Berge leben? hatte Trinle ihn einst gefragt. »Ich weiß es nicht«, hatte Shan erwidert, »aber ich
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