Der fremde Tibeter
weiß, daß die Tibeter ohne ihre Berge keine Tibeter wären.«
Sie fuhren in ein langgestrecktes Tal hinunter. Unter ihnen konnte man im trüben Morgenlicht nach ungefähr anderthalb Kilometern gewundener Wegstrecke einen steinernen Gebäudekomplex erkennen, der von längst verlassenen Weidegründen umgeben war. Shan neigte den Kopf, als ihm klar wurde, worum es sich handelte. Obwohl er seit drei Jahren in Gesellschaft tibetischer Mönche lebte, hatte er bislang noch nie ein echtes tibetisches Kloster gesehen. So wenige waren übriggeblieben.
Doch in Gedanken waren schon zahllose Klöster vor ihm errichtet worden. An den schlimmsten Wintertagen, wenn die Lastwagen das Lager nicht verließen und die Gefangenen sich Rücken an Rücken unter ihren dünnen Decken zusammenkauerten, um keine Körperwärme zu verschwenden, führten die alten Yaks die anderen mit Worten durch die Klöster ihrer Jugend. Während die Gefangenen so heftig zitterten, daß dabei manchmal sogar Zähne zerbrachen, begannen Choje und Trinle oder einer der anderen die Reise und beschrieben, wie das Licht der Dämmerung auf den fernen Steinmauern des gompa spielte, wenn der Reisende sich näherte, oder wie, lange bevor das Gebäude in Sicht kam, bereits der Klang einer bestimmten Glocke in dem Pilger widerhallte. Der Jasminduft entlang des Wegs, der Flug eines Schneehuhns, das Rascheln der Moschustiere, die ohne jede Angst im Schatten des gompa umherstreiften nichts davon wurde vergessen, auch nicht der freudige Ausruf des wachsamen rapjung, des Mönchlehrlings, der als erster den Besucher erspähte und die Tore öffnete.
Da die gompas der Sträflinge schon vor langer Zeit zerstört worden waren und nur noch wenige Fotos existierten, blieben als letzte Spuren allein die Erinnerungen einer Handvoll Überlebender. Doch indem die Geschichte erzählt wurde - und der Besuch eines einzigen Klosters konnte leicht mehrere Tage der Schilderung dauern -, baute man das gompa in den Herzen und Seelen einer neuen Generation wieder auf. Die alten Yaks vermittelten dabei nicht nur die optischen Eindrücke, sondern schwelgten auch in den Geräuschen und Gerüchen ihres früheren Zuhauses. Darüber hinaus erweckten sie den Rhythmus des menschlichen Daseins zu neuem Leben, bis hin zu den blicklosen Augen des blinden Lama, der die Glocke läutete, oder den Novizen, die mit Bündeln aus Pferdehaar den Steinboden schrubbten, weil dieser nach den Butteropfern zu rutschig geworden war. In einem Kloster, das früher in den südlichen Bergen gestanden hatte, gab es eine riesige Gebetsmühle, deren Quietschen die Zuhörer an einen Schwarm hungriger Elstern denken ließ, erinnerte Shan sich, und in der Küche des Klosters mischte man die Blüten eines bestimmten Heidekrauts mit Gerste zu einem duftenden tsampa.
Sergeant Feng verringerte das Tempo. »Vermutlich gibt es hier heißen Tee«, sagte er und nickte in Richtung der Gebäude. »Vielleicht kann man uns dort den Weg nach Saskya etwas genauer beschreiben. Ich kenne diese Straße nicht und...«
»Nein«, unterbrach Yeshe ihn ungewöhnlich grob. »Wir haben nicht genug Zeit. Fahren Sie weiter, ich kenne Saskya. Noch etwa dreißig Kilometer die Straße entlang, vor den hohen Klippen am Ende des Tals.«
Feng grunzte nichtssagend und fuhr weiter.
Knapp eine Stunde später bogen sie auf Yeshes Anweisung auf einen unbefestigten Weg ein, der in einen Wald aus Zedern und Rhododendren führte. Nach einigen Minuten kam ein langer Wall aus Steinen in Sicht, der quer zur Straße verlief und im Dickicht verschwand. Shan hob die Hand, damit Feng anhielt. Dann stieg er aus, lief zu dem Wall und blieb davor stehen. Da war etwas, das er wiedererkannte, obwohl er noch nie zuvor hier gewesen war. Irgendwo in der Nähe ertönte leise eine tsingha, die kleine Handzimbel, die bei buddhistischen Riten verwendet wurde.
Shan verspürte einen Anflug von Aufregung. Er hatte diesen oder einen ganz ähnlichen Ort doch schon einmal besucht, und zwar in den Wintergeschichten der alten Yaks. Langsam gaben seine Beine nach, und einen Moment lang kniete er und legte die Hände auf die Steine. Dann fing er an, den Staub von den Blöcken abzuwischen. Er nahm erst einen, dann noch einen und noch einen. Sie waren von Menschenhand behauen worden, und auf jedem fand sich eine tibetische Inschrift, die man entweder mit einem Pinsel aufgetragen oder unbeholfen in die Oberfläche gemeißelt hatte. Er befand sich inmitten einer mani-Mauer aus mit Gebeten
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