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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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bekennen wollte, wurden alle sechs tibetischen Studenten nach Hause geschickt.«
    »Soll das heißen, Sie waren es nicht?«
    »Ich war an dem Tag nicht einmal im Gebäude«, erwiderte Yeshe unglücklich. »Ich habe geschwänzt, um Eintrittskarten für einen amerikanischen Film zu bekommen.«
    »Hattest du Erfolg?« fragte Feng einen Moment später. »Bei den Karten.«
    »Nein«, seufzte Yeshe. »Sie waren ausverkauft.«
    Die Stille des Himmels überwältigte Shan jedesmal aufs neue. Im Licht der Scheinwerfer tauchte ein Geist auf und schien sie schwebend zu beobachten. Feng keuchte erschrocken auf. Erst als die Gestalt seitlich im Abgrund verschwand, sah Shan die Schwingen. Eine Eule.
    »Mein alter Herr war Zimmermann.« Die Worte hingen plötzlich in der Luft wie ein unkontrollierter Gedanke. Es dauerte einen Moment, bis Shan begriffen hatte, daß sie von Feng stammten. »Man hat ihm seine Werkstatt weggenommen, seine Werkzeuge, einfach alles. Weil sie ihm gehört haben. Klasse der Grundbesitzer. Zehn Jahre lang hat er Bewässerungsgräben ausgehoben. Aber nachts hat er Sachen hergestellt.« In Fengs Stimme schwang etwas Neues mit. Auch er hatte sie gespürt. Die Finsternis.
    »Aus Pappe. Aus getrocknetem Gras. Eßstäbchen.
    Wunderschöne Sachen. Schachteln. Sogar kleine Schränke.«
    »Ja«, sagte Shan unsicher, nicht weil er einen solchen Zimmermann, sondern weil er viele solcher Helden gekannt hatte.
    »Ich habe ihn nach dem Grund gefragt. Ich war bloß ein dummer Junge. Doch er hat mich nur weise angesehen. Wißt ihr, was er geantwortet hat?«
    Eine Sternschnuppe schoß quer über den Himmel. Keiner sprach ein Wort.
    »Was er geantwortet hat«, fuhr Feng schließlich fort. »Er hat gesagt, du darfst nie auf der Stelle verharren, sondern mußt immer in Bewegung bleiben.«
    Shan schaute noch etwas länger zu den Sternen empor. »Er war sehr weise«, sagte er. »Ich hätte Ihren Vater gern gekannt.«
    Er hörte, wie Feng überrascht Luft holte. Dann gab der Sergeant das leise gurgelnde Geräusch von sich, das bei ihm ein Lachen darstellte.
    Eine weitere Sternschnuppe blitzte aif. »Manche der alten Yaks sagen, jede Sternschnuppe bedeute, daß eine Seele die Buddhaschaft erlangt«, sagte Shan bedächtig.
    »Die alten Yaks?« fragte Yeshe.
    Es war Shan gar nicht aufgefallen, daß er laut gesprochen hatte. »Die erste Generation der Häftlinge. Die ältesten Überlebenden.« Er lächelte in der Dunkelheit. »Während meines ersten Winters bei der 404ten mußten wir einen Paß im Hochgebirge vom Schnee freiräumen. Es war bitterkalt. Der Wind machte merkwürdige Sachen mit dem Schnee. In einer Ecke fanden sich zehn Meter hohe Verwehungen, in der nächsten lag der Erdboden frei. Die Felsen waren von Eis und Schnee überzogen und sahen aus wie riesige Traumgeschöpfe. Eines Tages, nachdem es Neuschnee gegeben hatte, schaufelten wir gerade wieder die Straße frei, da lag vor uns auf einmal ein großer Felsblock, der vorher noch nicht dagewesen war. Jemand sagte, eine Lawine müsse ihn mitgerissen haben.
    Wir schaufelten den Schnee beiseite. Der Wind wehte die Stelle wieder zu. Wir schaufelten von neuem. Später schrie hinter uns plötzlich einer der Wachposten auf. Der Felsblock habe ihn angestarrt.« Shan lächelte erneut. Er hatte ganz vergessen, wie lieb ihm diese Erinnerung war. »Es war ein alter Yakbulle, der sich vom Schnee hatte bedecken lassen, um der Kälte des Sturms zu entgehen. Er stand einfach da, als wäre er ein Teil des Bergs, und betrachtete den Irrsinn der Welt um ihn herum. Auf dem Rückweg sagte einer der Häftlinge, er habe an die alten Mönche in der 404ten denken müssen. Zeitlos, unverwüstlich, wie ein Berg mit Beinen, ruhig und friedlich, auch wenn es noch so schlimm um sie zu stehen schien. Die Bezeichnung ist hängengeblieben.«
    Später erhob sich ein seltsames Geräusch, das Stimmengewirr eines Stadions voller Leute. Auf einem Podest in der Mitte saßen an einem Tisch mit Mikrofonen drei strenge Gestalten Hinter ihnen, jenseits des Podests, stand eine alte Frau mit Mop und Eimer. Shans Kopf ruckte hoch. Es war ein Traum. Nein, wurde ihm schwermütig klar, es war eine Erinnerung. Er starrte zu den Sternen empor, aber fünf Minuten später war er wieder in dem Stadion. Auf der Empore stand nun ein verängstigter junger Mann, dessen Blick von Medikamenten getrübt war. Hinter ihm befand sich eine weltgewandte Frau und verlas mit gellender Stimme in seinem Namen eine Erklärung, eine

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