Der fremde Tote
Friedhof Tag und Nacht nicht mehr aus den Augen lassen. „Bestimmt eine unruhige Zeit für die Toten. Die müssen jetzt wohl dauernd in ihren Gräbern hocken, bis die Aufregung sich gelegt hat.“
„Wo denkst du hin, Jungchen! Die sehen und hören uns doch nicht. Ihr beide seid da die Ausnahme.“ Mathilde, unsere Bekannte vom Ernheimer Friedhof, stand plötzlich mitten auf der Bühne und bewegte sich anmutig zu ihrem Text. „Na, wäre ich eine gute Schauspielerin geworden?“
Robert Sander und ein weiterer Mann, den ich nicht kannte, gesellten sich zu Korbi und mir auf die vorderste Sitzreihe. „Eva hat uns hergeschickt“, begann Robert. Sein Begleiter stellte sich als Urban Hinz vor, ehemaliger Förster von Ernheim und guter Freund von Robert Sander. „Wir wissen inzwischen auch, woher der fremde Gast stammt und was für ein Früchtchen er war. Trotzdem muss seine Seele ihren Platz finden. Er droht euch, aber das dürft ihr nicht so ernst nehmen. Der Verblichene (bei diesem Wort kicherten die beiden Männer) ist nämlich ein armes Würstchen. Sein Einfluss verflüchtigt sich von Stunde zu Stunde. Er kann euch nichts mehr anhaben, sich selber aber für alle Zeiten schaden, weil er, wenn er nicht endlich auf einem Friedhof landet, wo ihm die Regeln des Todseins erklärt werden, ruhelos durch die kommenden Jahrhunderte treibt. Es gibt viele wie ihn. Doch wir, das heisst Eva hatte die rettende Idee. Bei eurem vorletzten Besuch waren wir gerade mit den Vorbereitungen für die Ankunft des kleinen Gauners Nikolaus Meinder beschäftigt und hatten deshalb keine Zeit für euch. Nun, auch Nikolaus Meinder hat gewisse Pflichten, er muss sich seinen Platz in unserer Gemeinschaft erarbeiten, um ein ehrenwertes Mitglied zu werden.“
Evas Idee war es nun, Nikolaus Meinder als Dedektiv anzuheuern. Er sollte Hanno Herzigs Tod aufklären. Meinder hatte in seiner Jugend und auch später noch als ehrenwerter Familienvater und Ehemann viel Zeit im Zürcher Nachtleben verbracht. Er kannte die einschlägigen Lokale, die verrufenen Bars und auch die verschiedenen Bordelle. Er würde die Leute schon finden, mit denen Hanno Herzig verkehrte und die ihn zu Tode gebracht hatten. Dafür benötigte Nikolaus Meinder aber die Hilfe von Lebenden, denn ihn konnte man ja nicht sehen. Kurz, ein Geist konnte nicht zur Polizei rennen und ihr die Namen der Mörder verraten. Ausserdem nützten Namen ohne Beweise nichts. Diese Helfer aus dem Reich der Lebenden sollten natürlich Korbi und ich sein. Ich war nicht begeistert von dieser Idee. Die Polizei in Zürich würde doch bestimmt schnell herausfinden, wo Hanno Herzig sich jeweils aufgehalten und mit was für Leuten er Umgang hatte.
„Ausserdem“, erwiderte ich, „was würde Polizeimeister Hauermeier davon halten, wenn die Polizei in Zürich ausgerechnet uns beide an einem der berüchtigten Plätze der Stadt aufgriffe? Ich bin eher dafür, dass Hanno Herzig, dieser arme Idiot, uns persönlich sagt, wer ihn umgebracht hat. Ich verstehe nicht, weshalb er uns das nicht schon gestern bei unserem gemütlichen Brunch mitgeteilt hat“, fügte ich sauer hinzu.
„Nun, dieser kleine Zuhälter scheint schon zu Lebzeiten nicht sehr viel Grips besessen zu haben“, antwortete Urban Hinz, der Förster, „aber es ist so, er hat keinen für Menschen (ausser euch beiden) sichtbaren Körper. Selbst wenn er wüsste, wer ihn erstochen hat, könnte er es ausser euch beiden niemandem sagen. Und ihr könnt kaum zur Polizei gehen und die Mörder nennen. Wie würde das wohl aussehen, wo ihr doch weder diesen Hanno Herzig noch sein Umfeld gekannt haben wollt? Und dann ist da noch so eine Merkwürdigkeit: Wieso ausgerechnet unser Friedhof, wieso Ernheim? Das liegt nun nicht gerade in Zürich um die Ecke, sondern über eine Autostunde entfernt. Wir müssen herausfinden, ob der Tote oder die Mörder in irgendeiner Beziehung zu unserem Dorf gestanden haben.“
10. Aufstieg und Fall des Hanno Herzig
Hanno Herzig hatte nicht Hanno Herzig geheissen. Er war ein hübscher Junge gewesen und hatte schon früh begriffen, dass er mit seinem Aussehen mehr erreichen konnte als mit Schulbildung oder gar harter Arbeit. Aufgewachsen war Hanno oder Martin – wie er eigentlich hiess – bei seiner Mutter und ihrem Freund, die beide Säufer waren. Während die Mutter immerhin noch dazu in der Lage war, abends in einer Raststätte zu arbeiten, lebte der Stiefvater hauptsächlich von einer kleinen Invalidenrente (er hatte auf
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