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Der fremde Tote

Der fremde Tote

Titel: Der fremde Tote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agnes Jäggi
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Etwas zog an ihm, zog ihn an einen Ort, wo er nicht hin wollte. Angst, er hatte tatsächlich Angst. Er war tot, das war die eine Sache, aber was würde weiter geschehen? Er hatte keine Ahnung, und das flösste ihm Furcht ein. Er stand auf einer Strasse. Es dämmerte bereits, und nur das Rauschen der Bäume am Waldrand störte die Stille, eine unheimliche Ruhe lag über diesem Ort. Kein Mensch weit und breit. Wo war er? Er fühlte, wie Hitze in ihm aufstieg. ‚Ich verbrenne’, dachte er verzweifelt. Aber wie konnte ein Toter verbrennen und das auch noch spüren? Mühevoll setzte er einen Schritt vor den anderen. Er brauchte Gesellschaft. Irgendwo mussten doch Menschen sein – tot oder lebendig, das spielte keine Rolle. Er wollte nicht allein sein. Als kleines Kind war er oft allein gewesen. Er hatte sich in der Dunkelheit gefürchtet. Seine Mutter hatte ihm manchmal einen kleinen Schnaps gegeben, wenn sie zur Arbeit musste. „Damit du besser einschlafen kannst, mein Kleiner“, sagte sie. In Wirklichkeit wollte sie aber sicher gehen, dass er nicht mitten in der Nacht zu schreien begann. Die Nachbarn sollten nicht auf sie aufmerksam werden, nicht mehr, als dies schon der Fall war. Ausserdem sollte der Junge auch nicht weinen, wenn sein Stiefvater besoffen nach Hause kam. Er würde ihn sonst verprügeln. Sie mochte diesen kleinen Kerl, auch wenn er eine ständige Last war. Sie musste ihn trotzdem beschützen, er war so klein, so hilflos. Weitere Gedanken an ihr Kind gestattete sie sich nicht, denn dann würde sie traurig werden, tieftraurig. Dann könnte sie nachher nicht in der Raststätte arbeiten, nicht mit den ekelhaften, stinkenden, hauptsächlich männlichen Gästen flirten, über ihre dämlichen Witze lachen. Nein, wenn sie zu traurig wäre, dann würde sie eine Flasche Schnaps an den Mund setzen und schlucken, bis sie leer war. Sie war keine gute Mutter, das wusste sie, die Umstände waren auch nicht gut. Aber ihr Kind sollte wenigstens nicht hungern müssen. Das nicht. Sie musste sich zusammenreissen. Das Leben war beschissen, so war das nun einmal, warum also jammern und weinen? Sie wandte sich von dem leise schnarchenden Jungen ab, drehte sich an der Tür noch einmal um und flüsterte: „Schlaf gut, kleiner Martin, ich bin bald zurück.“ Martin hatte diese Worte trotz der Schläfrigkeit und dem Schnaps gehört. Sie umhüllten ihn wie eine warme Decke. Er schlief immer sehr gut nach dem Schnaps und den Worten seiner Mama. Ich weine ja, dachte er entsetzt, ich bin tot und weine. Das ist total verrückt. Die Hitze in seinem Körper oder wie er das nun nennen sollte drohte ihn zu verglühen. So ist das also, ich löse mich auf, bin einfach nicht mehr da, und niemand wird mich vermissen. Niemand hat mich je vermisst, berichtigte er. Seine Mutter hatte ihn nach der Sache in der Schule aus dem Haus geworfen, hatte plötzlich die Rechtschaffene, die enttäuschte Mutter gespielt. Und dann dachte er an Tante Lene und ihre Freundinnen. In der ersten Zeit hatte er die Aufmerksamkeiten genossen, doch dann nahmen Ekel und Abscheu vor sich selber und den Frauen ständig zu. Er musste weg, das war klar. Doch es kam noch schlimmer: Er wurde zum Mörder, auch wenn er nicht selber Hand an die beiden Zuhälter gelegt, sondern einen Auftragskiller dafür bezahlt hatte. Die Hitze nahm zu und damit die Schmerzen. Er wollte schreien, doch seine Stimme gehorchte ihm nicht. Er war vollkommen allein und verbrannte; seine Angst verwandelte sich in Panik. Ich bin ein so schlechter Mensch und jetzt komme ich in die Hölle. Ja es ist wahr, es gibt sie tatsächlich, diese Hölle. Ich werde brennen in alle Ewigkeit. Dann verschwand Hanno Herzig alias Martin, tauchte ab in eine gnädige schmerzlose Dunkelheit. Vor ihm lag ein weiter Weg und harte Arbeit, doch am Ende würde er Erlösung, Frieden und endlich ein Stück vom echten Glück finden. Es gab keinen Martin oder Hanno Herzig mehr auf der Erde, aber es gab Menschen – Tote und Lebende – , die mit vereinten Kräften versuchten, seine Mörder zu finden, in der Hoffnung, dass seine Seele Frieden und einen festen Platz im Reich der Toten finden mochte.

12. In der Stadt
     

    Natürlich handelten besagte Personen nicht vollkommen uneigennützig, weder Nikolaus Meinder, der sich den Respekt seiner Mitbewohner auf dem Friedhof verdienen wollte, noch Korbi und ich. Wir beide wollten vor allem eine gute Story. Und ausserdem war ich noch immer unsicher, ob Hanno Herzig nicht doch eine

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