Der fremde Tote
dem Bau einen Rückenschaden erlitten) und einer Erbschaft, die ihm eine Grosstante einst vermacht hatte. Dazu gehörte auch das inzwischen baufällige Einfamilienhaus am Rande von Winterthur. Wie auch immer, Martin lebte mehr oder weniger auf der Strasse, zur Schule ging er nur sporadisch. Seine Schulkarriere beendete er noch vor der 9. Klasse mit einem Rausschmiss, weil er dabei erwischt worden war, wie er es mit einer Klassenkameradin im Keller trieb. Sowohl er wie auch das Mädchen waren zu allem auch noch stockbetrunken. Das Mädchen, aus ähnlichen Verhältnissen stammend wie Martin, liess sich das Kind, das sie erwartete, wegmachen und starb dabei. Martin flog aus der elterlichen Wohnung und kam bei einer ledigen Tante unter, die es faustdick hinter den Ohren hatte, wie Martin bald feststellen sollte. Tante Lene machte Martin zu einem richtigen Mann, brachte ihm allerlei Tricks bei und liess ihn schliesslich als Callboy arbeiten. Sie vermittelte den Jungen an ihre reichen Freundinnen in der ganzen Schweiz. Ein paar Jahre lief das ganz gut. Martin wurde von den meist gelangweilten Ehefrauen vergöttert und reich beschenkt. Doch nach einigen Jahren stellte sich heraus, dass Martin wohl die Trunksucht seiner Mutter geerbt hatte. Vielleicht aber war es auch der Ekel vor diesen meist älteren Frauen, denen er seine Dienste anbieten musste, der ihn zum Trinken animierte. Eines Tages jedenfalls raffte er seine Schätze (Geld, Schmuck und edle Garderobe) zusammen und mietete sich eine kleine Wohnung an der Langstrasse. Er zeigte sich in teuren Bars und begann Mädchen anzuheuern, die für ihn auf den Strich gehen sollten. Zu seiner Ehre muss gesagt werden, dass er die Mädchen im Gegensatz zu anderen Zuhältern ziemlich gut behandelte. Er schlug sie nicht und machte sie auch nicht mit Drogen gefügig. Er besass bereits eine beachtliche Anzahl der schönsten Mädchen, die für ihn arbeiteten, und die übrigen Zuhälter wurden aufmerksam auf Martins Treiben. Eines Abends lauerten einige Männer Martin auf, als er gerade einen illegalen Spielclub verlassen hatte, und schlugen ihn übel zusammen. Auch einige seiner Mädchen kamen in dieser Nacht erheblich zu Schaden. Als Martin wieder auf den Beinen war, beschloss er, sich zu rächen. In dem Club, in dem er regelmässig spielte, hielten sich nicht nur Berufsspieler und kleinere Gangster auf, sondern auch solche, die bereits wegen Mordes und Totschlags gesessen hatten. Unauffällig traf er sich mit einem von ihnen, versprach ihm eine Menge Geld dafür, dass er, Hanno Herzig – inzwischen nannte er sich so, wie ihn Tante Lene aus unerfindlichen Gründen einmal getauft hatte – das Sagen hatte, was die Prostituierten im Quartier betraf. Der Mord an den beiden berüchtigten Zuhältern Rico und Konrad wurde nie aufgeklärt. Hanno war mit der Arbeit des Killers sehr zufrieden und verschaffte ihm auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin eine Existenz als Schreiner in einem kleinen Dorf weit weg von Zürich. Für kleinere Gefälligkeiten wandte Hanno sich in der Folge noch dann und wann an seinen Handwerkerfreund.
Diese ganzen Informationen hatte Nikolaus Meinder, der hart für seinen Platz auf dem Ernheimer Friedhof arbeitete, in wenigen Tagen zusammengetragen. Ich war beeindruckt. Wir wussten nun eine ganze Menge über den uns vor Kurzem noch völlig unbekannten Toten, nur den oder die Mörder kannten wir noch immer nicht. Doch wir hatten immerhin Anhaltspunkte. Wir kannten die Namen einiger Spielclubs und Nachtlokale, die Hanno häufig frequentiert hatte. Ausserdem mussten wir diese Tante Lene finden und natürlich den Schreiner. Nikolaus Meinder fand es nun an der Zeit, dass Korbi und ich das Zürcher Nachtleben näher kennenlernen sollten. Er würde uns in die bekannten Lokalitäten führen. Auf der Liste stand natürlich auch die Wohnung an der Langstrasse, wo Hanno beziehungsweise Martin bis zu seinem gewaltsamen Ende gewohnt hatte. Bestimmt hatte die Polizei die Wohnung bereits gründlich durchsucht, doch Nikolaus Meinder war überzeugt davon, dass Ganoven wie Hanno Herzig ganz besonders raffinierte Verstecke für Papiere, Geld oder Drogen eingerichtet hatten. Ausserdem stiesse man vielleicht auf verräterische Adressen, Hinweise auf Bekannte, Fotos und dergleichen.
Dank Korbis talentierter Maskenbildnerin und Kosmetikerin, Frau Altenburg, und meiner Frisörin und Freundin Louise verwandelte ich mich in eine etwas verlebte, dennoch elegante Dame, die gelangweilt vom
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